Von Igor Polianski
Mit vorliegender Analyse soll die zentrale Bedeutung der historischen Dispositive Synergie, Monismus und Weltanschauung für die russische Zeitgeschichte herausgestellt werden. Sie knüpft an die Bemühungen der letzten Jahre an, das bolschewistische Experiment und das Konzept der Moderne zusammenzudenken [1]. Einerseits wird zu zeigen sein, dass die Begriffe Monismus und Weltanschauung als Chiffren der Oktoberrevolution und sogar als durchgehende Signaturen der sowjetischen „integralistischen“ Moderne insgesamt gelten können. Andererseits ist der enge Zusammenhang mit der kulturgeschichtlich wichtigen Denkfigur der Synergie zu verdeutlichen. Eine grundlegende Analyse sollte dabei auf drei Ebenen erfolgen: 1. auf der Mesoebene der historischen Semantik, 2. auf der Mikroebene philosophie- und wissenschaftsassoziierter Diskurse und 3. auf der Metaebene einer strukturfunktionalistischen Analyse aus systemtheoretischer Sicht. Im aktuellen Beitrag wird die erste, semantische Ebene bearbeitet.
Der Begriff „Synergie“ (Sinergija) wird in Russland erst um 1900 systematisch gebraucht und zwar nur marginal u.a. in den Fachdiskursen von Chemie, Neurophysiologie oder Sozialpsychologie. So wird beispielsweise von einer funktionalen Synergie (Zusammenarbeit) verschiedener Muskelgruppen gesprochen [2]. Dieses Nischendasein endet in den 1980er Jahren als der Begriff den großen Sprung in die theologischen Kontexte und religiöse Grauliteratur schafft und sich auf diesem Feld mit der Semantik göttlich-menschliche Kooperation rasch profiliert. Dabei wird er in die russischen Wörterbücher „Neuer Wörter“ aufgenommen [3]. Seit den 1990er Jahren findet dann eine zunehmende Profanierung des Begriffs statt, der als Name verschiedener Aktiengesellschaften und Holdings, darunter eines großen Wodka-Produzenten, gerne gebraucht wird. Synergie steht für holistisches Denken, d.h. für die Idee des Zusammenwirkens und Einheitsstrebens, welche die russische Kultur bekanntlich seit Jahrhunderten prägt. Insofern lohnt es sich, nach semantisch äquivalenten Kodierungen dieser Sinnzusammenhänge zu fragen, die gleichsam als Doppelgänger von „Synergie“ bezeichnet werden könnten. „Monismus“ (Monizm) und „Weltanschauung“ (Mirovozzrenie) scheinen solche Äquivalente zu sein, wenngleich sie signifikante Bedeutungsverschiebungen (von der Emergenz in der Wirkungseinheit zur Emergenz in der Einheit des Sehens und Denkens) aufweisen. Auch diese Wortschöpfungen fanden erst spät Eingang in die russischen Diskurse. Umso erkenntnisträchtiger erscheint deren sprunghafter Häufigkeitszuwachs in den Textkorpora der russischen Moderne.
Das Kompositum „Weltanschauung“ ist erstmals bei Immanuel Kant belegt und zwar im Sinne der sinnlichen Ganzheitserfahrung. Kant führte diesen Begriff im ästhetischen Teil seiner Kritik der Urteilskraft (1790) im Zusammenhang mit der Analytik des „Erhabenen“ am Beispiel der Naturkontemplation ein [4]. Damit war von Beginn an eine normative Färbung und naturphilosophische bzw. naturwissenschaftliche Ausrichtung der Weltanschauung angelegt. Daraus entwickelt sich im 19. Jahrhundert ein ästhetisches Programm, welches – in Deutschland durch Goethe, Schiller und A v. Humboldt repräsentiert – dem „sezierenden“ Blick der Naturforschung eine fundierende Panoramaansicht emphatisch entgegensetzt und mit Friedrich Schleiermacher einen quasireligiösen Geltungsanspruch für sich reklamiert [5]. Und genau das kann politisch verwertet werden. Einige Jahrzehnte danach lobt Friedrich Engels den Materialismus als eine „einfache Weltanschauung“, die der „aparten Wissenschaftswissenschaft“ entgegenzusetzen sei [6] [7]. Es mussten aber noch vier Jahrzehnte ins Land gehen, bis das Wort die volle Diskursmacht entfalten konnte. Kein Wort sei gegenwärtig so im „Schwange“, wie „Weltanschauung“ konstatierte Fritz Mautners Wörterbuch der Philosophie 1923 [8]. Mit den Lehnbildungen world view, mirovozzrenie und conception du monde – wird der deutsche Begriff weltweit zum Exportschlager. Voraussetzung für diesen Bedeutungszuwachs war die im engeren philosophischen Diskurs des späten 19. Jahrhunderts einsetzende Debatte um eine Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft, die man mit dem Begriff Weltanschauungsphilosophie zu reflektieren versuchte [9]. Daraufhin folgten die ersten systematischen Auseinandersetzungen mit dem Begriff. Wegweisend war dabei eine typologische Unterscheidung der Weltanschauung von dem seit dem Mittelalter aus dem Latein entlehnten „Weltbild“ (orbis pictus). Nachhaltige Wirkung hatte dabei die von Wilhelm Dilthey aufgestellte dreischichtige Struktur der Weltanschauung [10]. Die Spezialleistung der Weltanschauung besteht in diesem Zusammenhang darin, wissenschaftliche Deutungsangebote mit gesellschaftlichen Werten und Zielen in Beziehung zu setzen und so ein subjektiv bewertetes und ästhetisch-emotional aufgewertetes Weltbild mit Totalitätsanspruch zu bieten. Mit anderen Worten: es handelt sich um eine Synergie von Gefühl und Naturwissenschaft. Als Medium einer solchen Synergie fungierte die sogenannte „Weltanschauungsliteratur“, die sich laut Horst Thomé im 19. Jahrhundert als eigenständiger Texttypus formierte und wesentliche Elemente der populärwissenschaftlichen Textgattungen aufnahm. Ihr essentielles Merkmal sieht Thomé in einer Rebellion gegen die „herrschenden Auffassungen“ [11]. Und tatsächlich konstruiert sich die Weltanschauung über die eigene System/Umwelt-Differenz als ein Aufbegehren gegen die einzelnen Teilperspektiven: gegen die „kirchliche Scholastik“, gegen die „scholastische“ Naturwissenschaft, gegen die „verstaubte“ Schulphilosophie etc.
Die Verknüpfung von Weltanschauung und Monismus erfolgte im naturwissenschaftlichen Bereich,womit der Rahmen eines auf Benedikt Spinoza zurückreichenden philosophischen Spezialdiskurses gesprengt wurde. So wollte der Begründer des Deutschen Monistenbundes Ernst Haeckel eine „vernünftige Weltanschauung“ zu einer naturwissenschaftlich fundierten „monistischen Religion“ werden lassen, um „ein Band zwischen Religion und Wissenschaft“ zu knüpfen und „das ethische Bedürfnis unseres Gemüthes“ ebenso zu befriedigen wie „das logische Causalitätsbedürfnis unseres Verstandes“ [12]. Auch in Russland findet der Monismus durch die gesellschaftliche Suche nach einer einheitlichen Weltanschauung bald Eingang. Diese Verknüpfung vollzieht sich aber in einem dezidiert politischen Kontext. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts diente der Begriff „Monismus“ sozialreformerischen und revolutionären Weltanschauungsbewegungen aller Couleur europaweit als Parole. Auch im Zarenrußland bestand eine besondere Affinität zwischen Monismus und Sozialdemokratie. Maksim Gor’kij (1868-1936), der „Dichter der proletarischen Revolution“ erklärte sogar: „Der Bolschewismus ist mir deshalb wert, weil er von den Monisten gemacht wird“ [13]. 1908 wurde neben den Essays zur Philosophie des Marxismus ein Sammelband publiziert, der sich als ein regelrechtes monistisches Manifest erweist (Očerki 1908) [14]. Darin sind Beiträge von Bogdanov sowie weiteren führenden linken Intellektuellen Russlands zusammengetragen. Ein Beiträger, der spätere Volkskommissar für Bildung Anatolij Lunačarskij (1875-1933), kannte den Monismus sogar aus erster Hand. Denn er hatte an der Zürcher Universität bei Richard Avenarius höchst persönlich studiert [15]. Die bolschewistisch-monistische Liebesaffäre war jedoch von kurzer Dauer. Bereits 1909 schrieb Lenin seine später kanonisierte Arbeit Materialismus und Empiriokritizismus, die sich hauptsächlich gegen die als „Empiriokritizismus“ pauschal apostrophierte monistische Denkströmung richtete.
Literatur [1] Plaggenborg, Stefan: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg. Frankfurt am Main, New York 2006. [2] Russkij Archiv Patologii, kliničeskoj mediciny i bakteriologii, 7-8 (1899), S. 630. [3] Kotelova, Nadežda: Novye slova i slovari novych slov. Bd. 2, Leningrad 1983, S. 214. [4] Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Hg. W. Weischedel, Frankfurt am Main 1996, Teil 1, Buch 2, § 26. [5] Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Berlin 1799, S. 55. [6] Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In: Karl Marx, Friedrich Engels. Werke, Berlin 1956-1990, Bd. 20, Berlin 1973, S. 129. [7] Engels Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Karl Marx, Friedrich Engels. Werke, Berlin 1956-1990, Bd. 21, Berlin 1973, S. 264. [8] Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Leipzig 1923, Bd. 3, S. 430. [9] Meier, Helmut G., „Weltanschauung“. Studien zu einer Geschichte und Theorie des Begriffs. Diss. Wilhelms-Universität Münster 1967, S. 228, 254, 277. [10] Dilthey, Wilhelm: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen. In: Max Frischeisen-Köhler (Hg.): Weltanschauung. Philosophie und Religion, Berlin 1911, S. 3-55, 12f. [11] Thomé, Horst: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Danneberg, Lutz und Friedrich Vollhart (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen 2002, S. 338-380, S. 342, 355. [12] Haeckel, Ernst: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers, Leipzig 1919, S. 7. [13] Gor’kij, Aleksej Maksimovič: Archiv A. M. Gor’kogo. Akademija Nauk SSSR. Bd. 4, Pis’ma k K. P. Pjatnickomu, Moskva 1954, S. 251. [14] Očerki po filosofii marksizma. Filosofskij sbornik. S.-Peterburg 1908. [15] Ljubutin, K.N., Franc, S.V.: Rossijskie versii marksizma: Anatolij Lunačarskij. Ekaterinburg 2002.
Zitierung:
Igor Polianski: Synergie, Monismus und Weltanschauung im Kontext der russischen Moderne, in: Tatjana Petzer (Hg.): SynergieWissen. Interdisziplinäres Forum & Open Access Lexikon, 01.11.2011, http://www.synergiewissen.de