von Markus Dahlem
Theoretische Physik und Neurologie, zwei scheinbar unabhängige Gebiete, treffen sich im Konzept der dynamischen Krankheiten: ein Konzept, das bewusst als Gegenpol zu dem der genetischen Krankheiten entwickelt wurde. Während dieses von den Einzelteilen zum Gesamtsystem führt, will jenes vom Ganzen auf die Teile kommen. Beide Konzepte ergänzen sich und sind aufeinander angewiesen, will man die Möglichkeiten der modernen Medizin ausschöpfen. Unter dynamischen Krankheiten verstehen wir solche mit besonderen zeitlichen Verläufen der Symptome. Symptome also, die gewissen Rhythmen folgen, ein Zittern etwa, und so einen makroskopischen, nachgerade ganzheitlichen Blick offenbaren. Mit mathematischen Methoden können im Rahmen der sogenannten Verzweigungstheorie (Bifurkationstheorie) Übergänge von Rhythmen, z.B. von einem gesunden zu einem kranken Zustand, klassifiziert werden. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, dass dieses mathematische Verständnis auch neuartige Therapieansätze eröffnet. Therapieansätze können z.B. darauf beruhen, einen gesunden Zielzustand (die Homöostasis), der instabil geworden ist, durch Kontrollverfahren zu stabilisieren. Solche Verfahren nennen wir auch Chaos-Kontrolle und zwar selbst dann, wenn diese Verfahren auf nicht-chaotische Systeme mit instabilen Zuständen angewandt werden.
Migräne ist so eine dynamische Krankheit. Ich stelle mathematische Modelle auf, die Symptomverläufe zum einen visualisieren, z.B. Halluzinationen vor Eintritt der Kopfschmerzen, und, zum anderen, können wir zusammen mit Klinikern Modellvorhersagen überprüfen. Dazu hilft uns neben den Bildgebungsverfahren das Migränekunst-Konzept: Betroffene nutzen Zeichnungen, um den Verlauf ihrer Halluzinationen mitzuteilen. Somit kommt eine dritte Säule meiner interdisziplinären Forschung aus dem Bereich der Künste. Als Methode werden Konzepte der Synergetik, also Konzepte der Lehre des Zusammenwirkens und der Selbstorganisation von komplexen Systemen angewendet. Die dynamische Krankheit wird unter anderem mithilfe der Bifurkationsanalyse, Computersimulation und Störungstheorie untersucht.
Wellen im gekrümmten Raum. Das klingt nach Einstein und Gravitation, nach Relativitätstheorie also. Es ist aber auch Neurologie, denn unser Hirn hat Windungen, die Menschen in Form visueller Halluzinationen bei Migräne im wahrsten Sinne des Wortes sehen können, weil eine Welle durch ihre gekrümmte Sehrinde läuft. Bis heute warten wir auf den direkten Nachweis von Gravitationswellen. Zumindest indirekt wurden Gravitationswellen aber nachgewiesen, durch ihre Wirkungen auf astronomische Objekte. Mit ähnlichen Problemen kämpften wir in der Migräneforschung. Der Nachweis der Migränewellen, der sogenannten Migräne mit Aura, gelang nun indirekt durch ihre Wirkungen auf unser Sehvermögen.
Wie messe ich Migräne?
Ohne moderne nichtinvasive Bildgebung kann eine Migräne-Attacke nicht objektiv nachgewiesen werden. Anders ist das zum Beispiel bei der Epilepsie. Dort schlägt zum einem der Elektroenzephalograf (EEG) an und zum anderen sind deren klinische Symptome leicht erkennbar. Dabei geht es weniger um einen Zweifel, ob jemand unter Migräne leidet, als um Messdaten, die Aufschluss über die genaue Krankheitsursache geben. Der direkte Nachweis der Migränewellen ist schon vor einigen Jahren gelungen, mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT bzw. fMRI). Es gelang die stoffwechselbedingten Unterschiede durch einen veränderten Blutfluss bei Migräne während einer Attacke zu messen. Bei beiden Formen der Migräne, mit und ohne Aura, fand man Hinweise auf eine spreading depression bzw. deren Fingerabdruck.
Spreading depression oder auch SD bezeichnet eine nichtlineare Erregungswelle, die mit wenigen Millimetern pro Minute durch die Hirnrinde wandert. Interessanterweise kommen nun neue eindeutige Belege für die neuronale spreading depression Theorie der Migräne aus einer anderen, ebenso indirekten Messung. Eine Messung, die betroffene Menschen zuhause mit einem Blatt Papier und Stift alleine machen können.
Sehstörungen bei Migräne
Migränewellen können typische Sehstörungen verursachen bevor der Kopfschmerz losgeht. Es gibt neben diesen Sehstörungen noch eine enorme Vielfalt weiterer neurologischer Störungen, die Folge einer Migränewelle sein können. Die Sehstörungen sind aber am leichtesten erfassbar. Die Sehstörungen verlaufen im Gesichtsfeld meist in charakteristischer Weise. Es gibt keinen Zweifel, dass diese Sehstörungen eine neuronale Ursache haben. Natürlich könnte aber eine Änderung des Blutflusses zunächst die Hirnzellen beeinträchtigen und dieses dann zu Sehstörungen führen. In diesem Fall müssten die Sehstörungen mit den Territorien im Hirn, die von Blutgefäßen versorgt werden, übereinstimmen. Eine rein neuronale Ursache würde dagegen nicht von diesen Territorien abhängen. Allerdings würde ein neuronaler Mechanismus wie SD die Hirnrindenkrümmung respektieren und so zu den charakteristischen Mustern führen. Folglich müssen wir einfach den Verlauf der Sehstörungen bei Migräne mit dem Pfad der Welle auf der Hirnrinde vergleichen:
http://www.youtube.com/watch?v=OqdcfLmg3Cs&feature=player_embedded
In dem YouTube-Film sehen Sie zunächst einen an sich beliebigen Hintergrund, in diesem Fall unseren PLoS ONE Artikel, in dem die Ergebnisse präsentiert wurden. Auf diesem Hintergrund zeichnet sich eine typische Sehstörung ab. Sie beginnt kurz über meinem Vornamen. Unmittelbar nach dem ersten Bemerken seiner migränösen Sehstörungen hatte ein Ingenieur diese aufgezeichnet. Über viele Jahre fertigte er über 300 Zeichnungen an. Der Film basiert auf einer dieser Zeichnungen. Um diese Zeichnungen mit der Anatomie vergleichen zu können, haben wir die Sehrinde mit der funktionellen Magnetresonanztomographie genau vermessen. Ab Sekunde 15 blendet der Film über. Rechts sehen Sie in einer Simulation was der Ingenieur sah. Er fixierte seinen Blick die gesamte Zeit auf das rote Kreuz am linken mittleren Rand eines Blattes. Jede Minute markierte er so mit einem Stift die aktuelle Position seiner Sehstörung, die sich relativ zum Blickpunkt bewegt. Rechts im Film sehen Sie einen Schnappschuss dieser Szene. Für jeden anderen Beobachter sähe es so aus, als würde der Ingenieur planlos blaue Linien zeichnen.
Der Film läuft in Zeitraffer. Die erste Minute dauerte in Echtzeit 8 Minuten. Dann wird erneut überblendet. Es bleiben die blauen Linien und es fächert von oben ein Farbverlauf ins Bild, der den Azimut, eine Winkelkoordinate des Gesichtsfeldes, farblich kodiert. Dieser Farbcode wird noch einmal benutzt, um das entsprechende Areal in der Sehrinde des Ingenieurs zu markieren. Die Sehrinde wird am Ende des Films vergrößert und isoliert im Vordergrund gezeigt. Die Szene endet auf einem Bild ähnlich zu diesem (siehe die mittlere Abbildung).
Hier erkennen wir, dass unser Gesichtsfeld ortstreu in der Sehrinde repräsentiert ist. Zum Beispiel ist der Horizont des halbseitigen Gesichtsfeldes entlang der Einfaltung in der Sehrinde repräsentiert. Der untere Quadrant des halbseitigen Gesichtsfeldes liegt oberhalb der Repräsentation des Horizontes. Hier verläuft die Sehstörung in diesen einen aufgezeichneten Migräneanfall. Also in den cyanblauen Bereich. Die Störung lief sogar noch weiter, nach den ersten 8 Minuten war zunächst eine Pause von 7 Minuten und dann lief die Störung nochmals 12 Minuten weiter.
Noch wilder wurde es bei einem anderen Migräneanfall, der sich im linken Gesichtsfeld abspielte. Also in der rechten Hirnhälfte und dort wiederum natürlich auch in der Sehrinde. Gerade im Vergleich dieser beiden Daten, konnten wir die Korrelationen zwischen anatomischen Landmarken und dem Verlauf der Sehstörung erkennen. Diese sprechen eindeutig für eine neuronale Ursache, also für die spreading depression Theorie der Migräne. Dies ist natürlich nur ein Beispiel wie theoretische Physiker in der Neurologie forschen. Es ist insbesondere ein Beispiel für das, was wir auch mathematische Neurowissenschaften nennen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im wissenschaftlichen Blog von Markus Dahlem “Graue Substanz” unter dem Titel “Ich sehe was, was du nicht siehst”: http://www.scilogs.de/blogs/blog/graue-substanz/2009-12-01/migraenewellen
Zitierung:
Markus Dahlem: Physik der Migräne, in: Tatjana Petzer (Hg.): SynergieWissen. Interdisziplinäres Forum & Open Access Lexikon, 01.09.2012, http://www.synergiewissen.de