Von Tatjana Petzer, Linda Pelchat und Anar Imanov1)
Synergie ist heute in der Bildenden Kunst und Architektur ein Denk- und Handlungsmodell mit vielen Facetten. Zugrunde liegen holistische Vorstellungen vom emergenten Zusammenwirken der Teile, von Interaktionen zwischen Innen und Außen, von integrativen Energien der Künste, die sich auf die Naturphilosophie, die Wissenstheorie oder die Religion stützen. Die Konzepte synergy, Syntopie und synérgeia wurden spätestens seit Mitte der 1960er Jahre für Künstler und Konstrukteure zum programmatischen Spielfeld.
Mit synergy beschrieb der US-amerikanische Denker und Designer Richard Buckminster Fuller (1865-1983) das Verhalten ganzer Systeme, das nicht von den Eigenschaften seiner Bestandteile vorausbestimmt wird. Dieses Phänomen beobachtete er zunächst in der Natur, besonders in der Chemie, Biologie und Physik und übertrug diese Erkenntnis dann auf Geometrie und Konstruktion.2) Seine Herangehensweise beschrieb Fuller 1963 in einem Vortrag in Mexico: „I began to explore structure and develop it in pure mathematical principle out of which the patterns emerged in pure principle and developed themselves in pure principle. I then realized those developed structural principles as physical forms, and in due course applied them to practical tasks.“3) Fuller ging also von universellen Ordnungsprinzipien der Natur aus, die er als mathematisch-geometrische Zusammenhänge ergründete. In ihnen sah er den „Schlüssel für das Verständnis des Universums“.4) Geleitet von dem Anspruch, mit seinen Konstruktionen maximale Effizienz zu erlangen, systematisierte er seine Untersuchungen zu den energetisch-synergetischen Geometrien in einer allgemeinen Konstruktionslehre: der Synergetik.
Fuller war ein futurologischer Geist. In den 1930er Jahren entwickelte er zunächst mobile modulare Architekturen. Darunter ein futuristisch anmutendes Fahrzeug, die dreirädrige stromlinienförmige „Dymaxion transport machine“, die ab einer bestimmten Geschwindigkeit abheben sollte,5) sowie ein flexibles und transportierbares aerodynamisches Wohnhaus für fünf Personen. Anstelle der traditionellen Fassade sollte das Haus als äußerste Schicht eine Membranhülle haben, die im Sinne einer „intelligenten Haut“ die Belüftung und Belichtung energie-effizient regulierte. Neben diesen technischen Neuerungen, die die Umwelteinflüsse bei der Bauplanung des sog. „Dymaxion House“ berücksichtigte, war für seine Zeit besonders die Vorgehensweise neuartig und bezeichnend: Fuller setzte Innen, also bei den Bedürfnissen der Bewohner, an, arbeite von Innen nach Außen, hängte die „Wohnmaschine“ an einen Mast und gab dabei die traditionellen Vorstellungen von Sockel, Wand, Dach und Decke auf. Die konstruktiven Besonderheiten dieser Artefakte, d.h. flexibles Bauen und maximaler Nutzen mit geringstem Aufwand, charakterisierte er mit seiner Wortschöpfung „Dymaxion“ – aus „Dynamik“ und „Maximum“.6)
Später stellte sich Fuller globalen Problemen, etwa der weltweiten Ressourcenverteilung, wofür er in den 1960er Jahren ein Strategiespiel entwickelte – das auf einer großen Dymaxion‐Weltkarte gespielte World Game.7) Fuller, ein Grenzgänger zwischen den Disziplinen, mahnte, sich der vordringlichen Aufgabe der Steuerung des “Raumschiffs Erde” zu stellen. Sein Querdenken ging mit einer umfangreichen Lehr- und Vortragstätigkeit einher, wobei er grundlegende Prinzipien stets anhand zahlreicher (Demonstrations-)Modelle veranschaulichte.8) Ausgangspunkt der Synergetik war, neben den Prinzipien der Natur, das Prinzip der Ökonomie, das Streben, „mehr mit weniger“ zu erreichen.9) Auf diesem Grundsatz basierte letztlich die synergistische „Design-Wissenschaft“, die Fuller – in seinem Selbstverständnis als „comprehensive anticipatory design scientist“ – begründete.
Eine Skizze aus den 1940er Jahren (Abb.2) zeigt eine Entdeckung Fullers, die für die Synergetik zentral wurde, und zwar die Möglichkeit, durch Verdrehen und Ineinander- bzw. Auseinanderklappen eine Polyederform in eine andere zu verwandeln. Er benannte dieses synergetische Prinzip nach einem populären Tanz der 1920er Jahre „Jitterbug Transformation“10) und konstruierte später auf dieser Grundlage auch seine geodätischen Kuppeln, die zu seinem Markenzeichen werden sollten; 1954 ließ sich Fuller diese patentieren.11) Die neuartige Raumfachwerkkonstruktion, die sich durch extrem hohe Stabilität, Flexibilität und Kapazität auszeichnete, war mobil, sehr leicht und ermöglichte mit minimalem Material- und Arbeitsansatz maximales stützenfreies Raumvolumen. Die industriell präfabrizierten kleinteiligen Bauelemente waren zudem gut transportabel und eine daraus gefertigte Kuppel je nach Größe innerhalb eines Tages aufzubauen. Derartige geodätische Leichtbaukonstruktionen – der von Fuller erbaute Pavillon der USA auf der Weltausstellung 1967 in Montreal ist das prominentes Beispiel dafür – wurden ab den 1950er Jahren weltweit bereits über 300.000-fach als Hangars, Radarstationen, Ausstellungs- und Mehrzweckhallen etc. realisiert.
Geodätische Kuppeln haben nachhaltig konstruktiv-kreative, biomorphe und ökonomisch-ökologische Architekturen beeinflusst. Eine der populärsten geodätischen Konstruktionen sind die weltweit größten Gewächshäuser, die vom Londoner Architekturbüro Nicholas Grimshaw (*1939) für das „Eden Project“12) entworfen wurden (Abb.3). An der südwestlichen Spitze Englands entstand ein großer Komplex aus mehreren, raupenähnlich miteinander verbundenen Kuppeln, die sich in die Mulde des ehemaligen Tonabbaugebietes von Cornwall schmiegen. Das Eden Project wurde 2001 eröffnet und lädt heute die Besucher ein, unter der schützenden geodätischen Membrankonstruktion (aus stählernem Raumfachwerk und sehr leichten, transparenten Kunststoff-Panelen) zwischen exotischen Pflanzen aus der ganzen Welt in tropischem oder mediterranem Klima zu wandeln. Interessanterweise hatte Fuller selbst eines seiner Projekte „Garden of Eden“ benannt: 1969 verfolgte er die Idee, Manhatten mit einer riesigen geodätischen Kuppel zu überspannen (er nahm an, dass die Stabilität der geodätischen Konstruktionsweise mit wachsender Größe zunehme, also unendlich baubar sei „weil sie durch einen Synergieeffekt bei zunehmender Größe immer effektiver würden“,13) um auf diese Weise die Bewohner von negativen klimatischen Einwirkungen und industriellen Schadstoffen zu schützen: „From the inside there will be uniterrupted contact with the exterior world. The sun and moon will shine in the landscape, and the sky will be completely visible, but the unpleasant effects of climate, heat, dust, bugs, glare, etc. will be modulated by the skin to provide Garden of Eden interior.“14)
Fuller beschritt Zeit seines Lebens neue Wege und eröffnete neue Perspektiven. Sein großer Einfluss ist, ungeachtet der schwierigen Rezeptionsgeschichte, bis heute spürbar: Zahlreiche zeitgenössische Künstler ließen und lassen sich von Fullers Konstruktionsprinzipien und Ideen inspirieren.15) Das Marta Herford-Museum zeigte 2011 unter dem bezeichnenden Titel „Wir sind alle Astronauten“ Fuller im Spiegel der zeitgenössischen Kunst, worunter namhafte Künstler wie Ai Weiwei (*1957), Olafur Eliasson (*1967), Tomás Saraceno (*1973) vertreten waren. Letzterer installierte 2011/12 in einer Einzelausstellung im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst – in Berlin seine so genannten „Cloud Cities“. Darin schuf er in Kooperation mit (Natur-)Wissenschaftlern, inspiriert von Spinnennetzen, Seifenblasen und Fullers Konstruktionsprinzipien, organische, für den Besucher betretbare schwebend verspannte und vernetzte Raumgeflechte, die die traditionelle Auffassung von Ort, Zeit, Erdanziehung und Architektur sprengen und damit auch visionäre Ansprüche erheben (Abb.4).16)
Auch Eliasson setzt auf interdisziplinäre Kooperation, was ihm ermöglicht, sehr spezifisches Technikwissen in seinen Arbeiten anzuwenden. Das Projekt „Your Mobile Expectations: BMW H2R project“ (2007) beispielsweise entstand in enger Zusammenarbeit mit Architekten und Wissenschaftlern. Ausgehend von der Beobachtung von Naturphänomenen wurden neueste Technologien eingesetzt, um einen mit Wasserstoff angetriebenen Rennwagen zu entwickeln, bei dem Höchstgeschwindigkeit und Umweltverträglichkeit kein Widerspruch mehr darstellt. Mit der Ausstellung eines Prototyps dieses Wagens in der Pinakothek der Moderne in München (2008), bei dem die Karosserie durch eine fragile, netzwerkartige, farbig hinterleuchtete Haut aus Eis ersetzt wurde, schuf Eliasson eine „Design-Provokation“, die das zukünftige Zusammenwirken von Industrietechnologie, Klimaveränderung und Kunst zur Diskussion stellte.17)
Um die Brechung von (Raum-)Wahrnehmung, die Erfahrung von Entstehungsbedingungen und energetischen Wirkungsmöglichkeiten ging es Eliasson in seiner kostspieligen Installation von vier künstlichen, nachts beleuchteten Wasserfällen auf dem East River in New York City (2008). Indem er ein gewaltiges Naturphänomen mitten in New York platzierte, brachte er zwei wuchtige Phänomene aus Natur und Gesellschaft auf ungewöhnliche Weise zusammen. Bei diesem Eingriff in den Stadtraum interessierte den Künstler in erster Linie die Reaktion der Stadt und das Potential, das durch eine dialogische Praxis freigesetzt wird.18) Mit derartigen Aktionen, die den (öffentlichen) Raum gestalten und modellieren, begreift Eliasson die Kunst als Mittel des gesellschaftlichen Engagements, des verantwortungsbewussten Dialogs, des produktiven Mitgestalten.19) Vom Nachleben Fullers zeugt auch Eliassons erste Berliner Einzelausstellung „Innen Stadt Aussen“ 2010 im Martin Gropius Bau. Gezeigt wurde u.a. der 2003 konzipierte „Model room“, eine Arbeitsfläche mit sphärischen Modellen und geodätischen Konstruktionen, die Fullers Werkstatt entstammen könnten (Abb.5). In dieser Installation sind Kunst und Konstruktion, Recherche und Lehre, Experiment und Produktion im Einklang.20)
Für Fuller verkörperten Wissenschaftler-Künstler-Erfinder-Architekten-Techniker vom Typ Leonardo da Vincis, Synergetiker in Wort und Tat, die zukünftigen Steuermänner des Raumschiffs Erde. Die anthropologische Dimension dieser Vorstellung wohnt in anderer Form auch dem Konzept der Syntopie inne, das auf den Hirnforscher Ernst Pöppel zurückgeht. Pöppel, der Parallelen zwischen den Grundstrukturen sinnlicher Wahrnehmung, ästhetischer Form und neuronalen Prozessen aufdeckte, bekräftigte eine gemeinsame Wesenheit von Kunst und exakter Wissenschaft: „Künstler thematisieren auf ihre eigene Weise das, was das ursprüngliche Anliegen naturwissenschaftlicher Forschung ist, nämlich Prozessen der Natur auf den Grund zu gehen.“21) Mit Syntopie werden hier Verbindungen räumlich und gedanklich getrennter Orte – vom topographischen Verhältnis anatomischer Organe zueinander bis hin zur Verknüpfung unterschiedlicher Disziplinen und Wissensbereiche – in den Fokus der Aufmerksamkeit und der kreative Grenzgänger in die Position des Mittlers gerückt. Dieses Konzept des Zusammenwirkens ist für das Werk des russischen Künstlers Igor’ Zacharov-Ross (*1947, auch: Igor Sacharow-Ross) zentral.
Zacharov-Ross, der heute in Köln lebt und arbeitet, zählt zu den ersten Akteuren der gegenwärtigen Kunstszene, die das interdisziplinäre Kunstschaffen neu entdeckten. Mit seinem syntopischen Labor verwirklichte er eine Versuchsstation, die das Zusammenspiel verschiedener Wissensebenen durch die gleichzeitige Trennung der einzelnen Bereiche und die Wiederherstellung verlorengegangener Verbindungen in der Kunst ermöglicht. Darin wird mit faustianischer Eindringungskraft geforscht und geschaffen: Neurowissenschaftliche Entdeckungen, Befunde aus der Pränatalmedizin, Minerale und biologische Strukturen werden durch das Prisma verschiedener künstlerischer Medien neu gesehen und bearbeitet. Viele Rauminstallationen von Zacharov-Ross ähneln buchstäblich einem Forschungslabor. Was verbindet Magie, Religion, Mythos, Kunst, Wissenschaft, Technik und Sprache, die hier seltsam zerlegt und mittels Erkenntnis, Vorstellungskraft und Intuition wieder zu möglichen Einheiten zusammengefügt werden? Im kreativen Prozess wird den letzten Gründen des Wissens nachgegangen. Als ob die Kunst ein nach Einheit von Wissenschaft, Kunst und kultureller Erfahrung strebendes Weltbild erschaffen könnte, in dem die Anfänge aller Erkenntnis zusammenfallen. Eine solche Vision wurde durch die Ausstellung SYNTOPIA! im Kunstmuseum Bonn realisiert, bei der Zacharov-Ross im Jahre 2007 sowohl in der Rolle des Kurators als auch des ausstellenden Künstlers auftrat.22)
Für den Kunsthistoriker Aleksandr Borovskij äußert sich das Syntopische bei Zacharov-Ross in erster Linie als subjektiver Erfahrungszustand an einem bestimmten „Daseinsort“ (russ.: mesto prebyvanija) zwischen Vergangenheit (Erinnerung), Gegenwart (Dasein) und Zukunft (Vorstellung). Dabei ist der Daseinsort kein zufälliger geo- bzw. topographischer Ort, sondern ein Ort, auf den die Seinskräfte ausgerichtet sind. Aus dieser Perspektive wird Syntopie als ein zugleich konkretes und universelles Gefühl des menschlichen Daseins auf Erden definiert, mithilfe dessen die Wirklichkeit im Hier und Jetzt erschaffen wird. Denkbilder aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen können hier auf eine hermetische Art und Weise verbunden und kombiniert werden, woraus wiederum neue Verhältnisse und Konstellationen entstehen.23)
Die einzelnen Arbeiten von Zacharov-Ross führen Vernetzungen und Schichtungen von Wissen, Erfahrung und Können vor Augen: Ein Kupferdrahtgeflecht über einem mit vier Hexagrammen umgebenen Kreiselement, das aus Petrus d’Abanos Heptameron der magischen Elemente, einem Handbuch für rituelle Magie stammt, zeigt das mystisch-magische Unterfangen, eine „abgebrochene Verbindung“ wiederherzustellen (Abb.6). Das enge Nebeneinander von Glaube und Technik verdeutlicht die Installation “Innere Kreuzigung” aus dem Zyklus »Syntopia« (Abb.7). Ein goldenes Bananenblatt, dem in archaischen Kulturen magische Kraft zugesprochen wird, verdeckt hier, aufgeschraubt auf einer Ikone, die darauf abgebildete biblische Kreuzigungsszene, während die davor aufgestellte technische Apparatur, die der Reanimation dienen könnte, auf den Topos der Auferstehung verweist. Die pantheistische Perspektive dieser Installation zeigt, hermetisch und konkret zugleich, einen syntopischen Dialog zwischen Orten und Zeiten, Glaubenssymbolik und Naturzyklus, Auferstehung und (Neu-) Schöpfung. Schließlich ist das Gehirn, Schaltstelle und Verknüpfungsort verschiedenster Operationen und damit Ausgangspunkt der syntopischen Wissenskunst. Eine Arbeit aus dem Zyklus “Syntopie der Orte” zeigt das der Schädeldecke entrissene Hauptgehirn des Menschen im Dunkel szientistischer Phantasmen (Abb.8). Nunmehr umgittert von eisernen Gerüsten und Antennen fungiert es offenbar als Medium und Verbindungszentrale zum Kosmos.
Neben dem synergetischen Konstruieren und dem experimentellen syntopischen Forschen verkörpert das geistige Tun den dritten Schauplatz der Synergie in der Kunst. Der Moskauer Künstler Gor Čachal (*1961) knüpft an das synérgeia-Verständnis der Ostkirche an, demzufolge menschliche und göttliche Energien im Heilsprozess interagieren und der Mensch, der paulinischen Tradition folgend, synergós, Gottes Mitarbeiter und Helfer ist (I Kor 3,9). In seinen Arbeiten setzt sich Čachal mit der mystischen Tradition des Hesychasmus 24) byzantinischer und slavisch-orthodoxer Mönche und insbesondere mit dessen Theologen Gregorios Palamas (anfang 14. Jh.) auseinander, der das Licht in das Zentrum theologischen Denkens stellte.
In der Videoinstallation „Der Name Gottes“ aus dem Zyklus „Die Sonne des Wahren, des Guten und des Schönen“ von 2003 (Abb.9) leuchten hundert Anrufungen des Namen Gottes (Vater, Schild, Geist, Mächtige, Der Unsichtbare, Feuer Essender, Herz schauende, Der Lebende, Befreier, Hirte, Beschützer, Herrscher, Gericht, Frieden, Liebe, Schöpfer, Licht usw.) in unterschiedlichen Größen auf, überblenden einander, verschwinden wieder. Bei dieser dynamischen Topographie der Gottesnamen handelt es sich um die Verbildlichung der Namensverehrung (Onomatodoxie, russisch: imjaslavie)25) in der Tradition des Hesychasmus. Die Anrufung Gottes im Gebet ist das „geistige Tun“ der Mönche, eine Übung, die sie zur ekstatischen Schau Gottes führen soll. Čachals Installation betont durch die Überblendungen der feuerroten Worte die Idee einer einzigen Energie, die durch die unzähligen Namen Gottes hindurchfließt.
Das Gebet, sprachlich-physikalischer Ausdruck und Ort der Innenschau im Prozess der Selbsttransformation, ist auch Gegenstand der Installation „Stupeni/Stages“ von 2005 (Abb.10). Auf einer Projektionsfläche erscheinen mittels Flash-Animationstechnik die Worte des Trisagion (von griechisch τρις dreimal und αγιον heilig), einer der ältesten christlichen Hymnen, die noch heute in der orthodoxen Kirche verbreitet ist: „Heiliger Gott, Heiliger Starker, Heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser“ (russisch: „Святый Боже, Святый Крепкий, Святый Бессмертный, помилуй нас“). Während diese Formel im Gebet dreimal wiederholt wird, interagieren in Čachals „visueller Interpretation“26) des Transformationsraums, der sich dem Menschen durch das Gebet öffnet, drei übereinander angeordnete spiralförmig rotierende Flächen konzentrischer Kreise. Der innere Blick des Betenden wird in der Installation nach außen gekehrt, die Aufmerksamkeit des Betrachters konzentriert sich auf die (hypnotisierende) Rotationsbewegung der Kreise, die sich zum aufleuchtenden Kreismittelpunkt hin verengen. Letzterer symbolisiert den Höhepunkt des hesychastischen Gebets: die Schau des Taborlichts, eine Lichtvision des an der göttlichen Gnade Teilhabenden. Die vertikale Anordnung der Gebetskreise versinnbildlicht dabei das innere Prinzip des Gebets als Prozess des geistigen Aufstiegs, d.h. die Stufen der Himmelsleiter auf dem Weg zum Absoluten, zu Gott.
Čachals Medienkunst nimmt eine Mittlerrolle zur religiösen Praxis ein. Doch die unkonventionellen Interpretationen religiös-metaphysischer Konzepte und Praktiken der Verklärung, Verwandlung und Transformation des Menschen, die auf dem Zusammenwirken menschlicher und göttlicher Energien beruhen, werden in konservativen Kreisen der russischen Orthodoxie kritisch betrachtet.27) Denn die mediale Produktion technisiert das mystische Erleben der synergoi, das aus dem menschlichen Streben nach dem Einswerden mit dem Göttlichen erwächst. Mehr noch: Sie durchkreuzt die Sprache der Theologie und Inszenierungsformen der Kirche in der postsäkularen Gesellschaft.
Wie verschieden die naturphilosophischen, wissenstheoretischen und religiösen Konzepte der synergy, Syntopie und synérgeia auch sein mögen, sie teilen eine anthropologische Sichtweise, die im Begriff der Synergie, in der Bedeutungskomponente des Mitwirkens, Mitgestaltens enthalten ist. Die synergetisch arbeitenden Künstler und Konstrukteure sind, das zeigen unsere exemplarischen Beispiele aus Architektur, Design und Bildender Kunst, Grenzgänger zu neuer Komplexität, zu höheren Dimensionen.