von Vanessa Lux
In seinem Buch The strategy of the genes stellt der Biologe Conrad Hal Waddington 1957 fest: „Oddly enough, I can discover no technical word meaning a pathway of change which is equilibrated in the sense that the system tends to return to it after disturbance“ [1, p. 32]. Er hatte erwartet, dass ein solches in der Kinetik oder Kybernetik polyphasischer Systeme zu finden sei. Eine entsprechende Suche blieb aber wohl erfolglos, denn Waddington schlägt schließlich „creode“ als Bezeichnung für diese besondere Systemeigenschaft vor. Das Wort ist ein von Waddington geschaffener Neologismus, zusammengesetzt aus den zwei griechischen Silben „χρη, it is necessary“ und „όδος, a route or path“ ([1, p. 32]; später auch „chreod“ geschrieben [2, p. 13]; im Deutschen als „Chreode“ übersetzt [3, p. 350]).
Eine Chreode repräsentiert eine zeitliche Abfolge von Zuständen eines Systems in Form einer durch Raum und Zeit gezogenen Entwicklungsbahn. Sie ist durch die Wechselwirkungen der einzelnen Teile des Systems bestimmt und bringt dieses nach kurzfristigen Störungen auf seine ursprüngliche Entwicklungsbahn zurück. Chreoden sind durch zwei Hauptmerkmale charakterisiert: 1. das chreodische Profil, das festlegt, wie und in welcher Abfolge sich Phasen schnellerer und langsamerer Systemänderungen abwechseln, und 2. die Stärke der Tendenz, mit der das System nach einer Störung auf die ursprüngliche Entwicklungsbahn zurückkehrt [1, pp. 32–34].
Waddington dient die Chreode als Modell für das Wechselspiel von Genen und Umwelt in der Organentwicklung und Zelldifferenzierung. Die Chreode steht beispielsweise für den Entwicklungspfad, den eine embryonale Stammzelle bei ihrer Entwicklung zur Haut oder Nervenzelle durchmacht. Dabei ging es Waddington insbesondere darum, die Mechnismen zu bestimmen, wie aus einer Zelle mit einem unveränderlichen Genotyp zuverlässig und zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle im Organismus mehrere, sehr unterschiedliche Zelltypen und physiologische Struktureinheiten entstehen können. Neben der permanenten Zustandsänderung bis zum Erreichen eines „steady state“ im fertigen Organ trägt das Modell auch der Fähigkeit komplexer Organismen und Zellstrukturen Rechnung, Störungen zu frühen Zeitpunkten in der Embryonalentwicklung teilweise vollständig ausgleichen zu können.
Die Chreode wird von Waddington im Zusammenhang mit seinem von ihm als „epigenetische Landschaft“ beschriebenen Entwickungspfadmodell eingeführt [1, pp. 30ff.]. Waddington illustriert dieses mit einem Bild von einem Fluss, der bergab durch ein Tal fließt und sich in verschiedene Talschluchten verzweigt. Die ausfächernden Talschluchten der epigenetischen Landschaft symbolisieren bei Waddington die potenziellen Entwicklungspfade. Die einzelnen Entwicklungspfade („developmental pathways“) oder auch kanalisierten Pfade („canalized pathways“) führen zu den jeweiligen – organisch stabilen – Zuständen der voll entwickelten Zelle im Organverband. Waddington diente das topographische Bild vom Talbett dafür, die fortschreitende Entwicklungsbahn hin zu einem stabilen Gleichgewichtszustand graphisch abzubilden. Die Zelle befindet sich dabei stets in einem Equilibrium. Dieses ist jedoch kein statischer Zustand, sondern es wohnt ihm eine Richtung oder ein Pfad der Veränderung inne. Waddington nennt diese besondere Art des Gleigewichtszustands mit Entwicklungsrichtung „Homöorhese“ („’homorhesis’, (ρηω, to flow)“, [1, p. 32]) – in Analogie zu dem sich gleich bleibend erhaltenden Zustand der Homöostase. Waddington zufolge könnten zwar die biochemischen Stoffwechselprozesse auf Zellebene innerhalb des fertig entwickelten Organs als Homöostase beschrieben werden, nicht jedoch die Veränderungen innerhalb der Stoffwechselprozesse, die für die Entwicklung einer Zelle aus anderen Zellen oder ganzer Zellkomplexe im Zuge der Organbildung notwendig sind: In „homeorhetic ‚equilibra’ […] the concentrations of substances do not remain constant, but change along defined time-extended trajectories“ (Waddinton, zit. n. [4, p. 179]).
Waddington nahm hierbei an, dass diese sich entwickelnde Stabilität das Ergebnis komplexer Interaktionen von Genotyp und Umwelt auf den verschiedenen Ebenen des Organismus ist. Die jeweils mehr oder weniger eindeutigen Wechselwirkungen und Feedback-Schleifen zwischen Genen und Umwelt bestimmten die Struktur der epigenetischen Landschaft – die spezifische Form des Tales. Störungen im Entwicklungsprozess repräsentierten vorübergehende Abweichungen vom Entwicklungspfad, wobei der Organismus aufgrund seiner biologische Plastizität, hergestellt über vielfältige Formen der Regulation und Pufferung im Normalfall wieder auf den ursprünglichen Entwicklungspfad zurückgebracht werde. Waddingtons Pfadmodell ist somit kein einfaches Modell eines linearen zeitlichen Ablaufs. Es ist vielmehr vierdimensional, d.h. es soll Entwicklung im dreidimensionalen Raum über Zeit fassen. Das Konzept der Chreode diente dazu, die besondere Eigenschaft dieser Entwicklungsprozesse und der ihnen zugrunde liegenden Interaktionen und Feedback-Schleifen, im Entwicklungsverlauf relativ stabil zu bleiben, als Systemeigenschaft zu beschreiben. So ist der „epigenetische Raum“ gemäß Waddingtons Vorstellung gerade dadurch „charakterisiert, daß er eine Anzahl von Chreoden enthält, deren jede durch die Instruktion im Genotypus definiert ist. Die Umwelteinflüsse können dazu tendieren, das System von seiner Bahn abzubringen, aber die Kanalisierung der Chreode, oder anders ausgedrückt, die Neigung zur Homöorhese, wird das System wieder auf seine ursprüngliche Bahn zurückbringen“ [3, p. 350]. Waddington verwendet das Modell aber auch, um eine Brücke zwischen phänotypisch relevanten Veränderungen des Genotyps auf der Ebene des Individuums und der Entstehung einer Art aus einer anderen in der Evolution zu beschreiben ([1], [5], [3]). Jeweils größere Veränderungen, wie die Entstehung neuer Arten, werden als Pfadwechsel verstanden [3, pp. 355f.]. Vor diesem Hintergrund reformulierte Waddington die Frage nach dem Verhältnis von Stabilität und Variabilität der genetischen Ausstattung eines Organismus in der Evolution unter Bezug auf James Mark Baldwins Theorie der genetischen Assimilation als Frage nach den durch äußere Faktoren bedingten Änderung der genetischen Konfiguration des Entwicklungspfades [3, pp. 355f.] und erhielt hierfür den Vorwurf des Lamarckismus und sogar des Lyssenkoismus (nach eigenen Angaben durch Jacques Monod [6, p. 89]).
Den Anlass, über ein solches Modell für biologische Entwicklung im Allgemeinen nachzudenken, bilden für Waddington seine Bemühungen um eine Synthese aus Evolutionstheorie, Genetik und Embryologie, an der er seit Anfang der 1940er Jahre arbeitete [7, p. 1]. Mit Hilfe einer mehrdimensionalen Entwicklungstheorie wollte er die biologischen Teildisziplinen in einer nicht-reduktionistischen, holistischen Konzeption vereinigen und insbesondere den sich zu dieser Zeit stetig vertiefenden Graben zwischen der Genetik und der Embryologie wieder überbrücken, deren Auseinanderdriften er in seinen eigenen Forschungsarbeiten erlebte. So hatte er in den 1930er Jahren mit John B. S. Haldane, einem der Mitbegründer der Populationsgenetik und der Synthetischen Evolutionstheorie, mit Hans Spemann, dem Entdecker biochemischer „Organisator“-Regionen und ihrer Bedeutung für die Embryonalentwicklung in Amphibien, und mit Thomas Hunt Morgan in dessen Drosophila-Labor gearbeitet.
Waddington wandte sich immer wieder explizit gegen die spätestens ab Mitte der 1950er Jahre dominant werdende Zuspitzung des genetischen Determinismus, wie er sich in der metaphorischen Gleichsetzung der DNA mit dem Code des Lebens äußerte. Die darin angelegte Vorstellung der DNA als Trägermolekül eines Programms, das alle für die Entwicklung des Organismus notwendigen Instruktionen enthalte, berücksichtige Waddington zufolge gerade die Plastizität biologischer Entwicklungen nicht ausreichend. Die Chreode spielte für ihn eine Schlüsselrolle für ein anderes, nicht-reduktionistisches Verständnis biologischer Entwicklungsprozesse von der Zelldifferenzierung bis zur Evolution. Beispielsweise stellten Chreoden eine vermittelnde Struktur zwischen Genotyp und Selektionsdruck dar, da ihnen eine eigene Dynamik und Stabilität inhärent sei: „Sind sie [die Chreoden] nur ein Resultat der natürlichen Selektion, die zur Ausbildung von Genotypen geführt hat, in denen die verschiedenen Gene durch ihr harmonisches Zusammenspiel ein Kontrollsystem bilden, das für die Kanalisierung der Chreode sorgt? Es ist zwar nicht zu leugnen, daß die natürliche Auslese ihr Teil zur Ausbildung der Stabilität beigetragen hat, aber man kann die Möglichkeit nicht ausschließen, daß ein gewisses Maß an Stabilität eine wesentliche Konsequenz des Zusammenwirkens einer großen Zahl von Genen ist“ [3, p. 350].
Weitere Möglichkeiten zur Beschreibung von Chreoden und der Aufklärung ihrer Charakteristika erhoffte sich Waddington von der Mathematik komplexer Systeme und der Kybernetik. So sah er in der Katastrophentheorie des 1958 mit der Fields Medaille ausgezeichneten Mathematikers und Philosophen René Thom ein Modell für den Wechsel von einem Entwicklungspfad in einen anderen [3, p. 350]. Die Beschreibung genetischer Wechselwirkungen als Boolsche Netzwerke und deren Simulation im Computermodell durch den theoretischen Biologen und Theoretiker komplexer Systeme Stuart A. Kauffman interpretierte Waddington als Modell für die Eigendynamiken und Selbststabilisierungstendenzen seiner Chreoden [3, p. 351].
Während Waddingtons Bild von der „epigentischen Landschaft“ als Entwicklungspfadmodell in der Entwicklungsbiologie und Entwicklungspsychologie durchaus weiter rezipiert und auch weiterentwickelt wurde, konnte sich die Chreode nicht durchsetzen. Sie geriet in der biologischen Entwicklungstheorie weitgehend in Vergessenheit. Selbst als Ende der 1980er Jahre die Evo-Devo-Debatte in der Biologie aufkommt und Waddington teilweise wieder rezipiert wird, wird eher von Kanalisierung und Entwicklungspfaden gesprochen, als von „Chreoden“. Nur sporadisch wird auf Waddingtons Konzeption Bezug genommen: An den Rändern der Science Community wird die Chreode etwa von Rupert Sheldrake in seiner in A New Science of Life [8] dargelegten Theorie des morphogenetischen Feldes aufgegriffen. Scheldrake verfasst darin eine holistische Naturtheorie, die insbesondere in der New Age-Bewegung Anklang fand. Mitte der 1990er Jahre greift der Pädagoge Edmund Kösel Waddingtons Konzept der Chreode im Rahmen seiner systemtheoretisch-konstruktivistischen Lerntheorie auf. Um die Prozesshaftigkeit und zugleich kanalisierte Form von Lernprozessen zu beschreiben, spricht er von „Lern-Chreoden“ [9]. Erst Ende der 1990er Jahre, mit dem Ende des genetischen Reduktionismus und dem neuen Hype um die Systembiologie, wird wieder an Waddingtons Überlegungen zur Chreode als Eigenart biologischer Systeme in Entwicklung angeknüpft (z.B. [10]; [11]).
1. Waddington, C. H. 1957. The Strategy of the Genes: A Discussion of some Aspects of theoretical Biology. London, George Allen & Unwin. 2. Waddington, C. H. 1968. The basic ideas of biology. C. H. Waddington (ed.), Towards a Theoretical Biology. 1. Prolegomena. Edinburgh, Edinburgh University Press , pp. 1–32. 3. Waddington, C. H. 1970. Der gegenwärtige Stand der Evolutionstheorie. A. Koestler and J. R. Smythies (eds), Das neue Menschenbild. Die Revolutionierung der Wissenschaft vom Leben. Wien, München, Zürich, Verlag Fritz Molden , pp. 342–373. 4. Waddington, C. H. and Thom, R. 1968. Correspondence between Waddington and Tom. C. H. Waddington (ed.), Towards a Theoretical Biology. 1. Prolegomena. Edinburgh, Edinburgh University Press , pp. 166–179. 5. Waddington, C. H. 1962. New Patterns in Genetics and Development. New York, London, Columbia University Press. 6. Waddington, C. H. 1974. How much is evolution affected by chance and necessity? J. Lewis (ed.), Beyond Chance and Necessity. A Critical Inquiry into Professor Jacques Monod's Chance and Necessity. London, The Garnstone Press Limited , pp. 89–102. (Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Peter Berz.) 7. Waddington, C. H. 1947. Organisers & Genes. Cambridge, Cambridge Universtiy Press. 8. Sheldrake, R. 1981. A new science of life. The hypothesis of formative causation. Los Angeles, Boston, J.P. Tarcher; Distributed by Houghton Mifflin. (In English). 9. Kösel, E. 1993. Die Modellierung von Lernwelten. Ein Handbuch zur subjektiven Didaktik. Elztal-Dallau, Laub. 10. Wimsatt, W. C. 1999. Generativity, Entrenchment, Evolution, and Innateness: Philosophy, Evolutionary Biology, and Conceptual Foundations of Science. V. G. Hardcastle (ed.), Where biology meets psychology. Philosophical essays. Cambridge, Mass., MIT Press (A Bradford book), pp. 139–179 11. Kier, L. B., Cheng, C.-K. and Testa, B. 2003. Studies on the Chreode Theory of Ligand Diffusion. Journal of Chemical Information and Computer Sciences, Vol. 43, p. 255.
Zitierung:
Vanessa Lux: Chreode, in: Tatjana Petzer (Hg.): SynergieWissen. Interdisziplinäres Forum & Open Access Lexikon, 01.12.2011, http://www.synergiewissen.de