Workshopbericht

Synergietalks16 »Unsterblichkeit. Geschichte und Zukunft des Homo immortalis«

05.07.2017 ZfL Berlin

Die Organisatorin des Workshops, Tatjana Petzer (ZfL Berlin), führte im Rahmen der Begrüßung in die modernen Unsterblichkeitskonzepte ein, die den historischen Bezugsrahmen für die aktuelle Diskussion bilden, und stellte die interdisziplinären Achsen der folgenden Vorträge vor, die Positionen aus Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Literatur in Ost-, Mittel- und Südosteuropa beleuchten. Der biologische Diskurs über die potentielle Unsterblichkeit von Organismen, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts geführt wird, beförderte die experimentelle Forschung zu Lebensverlängerung und Verjüngung. Anthropotechniken der Optimierung und der Transformation des Menschen zum Homo immortalis, die von »Ersatzteiltechniken« über kybernetische Technologin bis hin zu transhumanistischen Spekulationen der Überwindung des sterblichen Körpers etwa durch »mind uploading« reichten, traten neben die Religion, die immer schon den Tod und dessen Überwindung akzentuierte.

Thema des Auftaktvortrags Die Lösung des Todesproblems bei Konstantin Ciolkovskij des Historikers Michael Hagemeister (Ruhr-Universität Bochum) war der russische Raumfahrt-Pionier Konstantin Ciolkovskij, wobei nicht dessen bahnbrechenden technologischen Errungenschaften für die Kosmonautik im Mittelpunkt standen, sondern seine äußerst eklektische ›Philosophie‹, die von der seinerzeit populären Annahme eines entropischen Weltendes ausging. Um die Menschheit vor einem apokalyptischen Kälte- oder Wärmetod zu bewahren, müsse sich der Mensch mittels Raumfahrt von der Erde emanzipieren und in den Kosmos, den Raum der ewigen Jugend und Glückseligkeit aufbrechen. Hagemeister arbeitete dabei sehr deutlich heraus, dass die Selektionsparameter, nach denen die Tauglichkeit potentieller Probanden für eine solche Umsiedelung bemessen werden sollten, in erheblichem Maße von rassistischen und sozialdarwinistischen Gedankengut geprägt waren. Denn Ciolkovskij war nicht nur bereit, Pflanzen und Tiere, sondern auch Schwache und Kranke für die Höherentwicklung des Menschen und damit den rassischen Fortschritt zu opfern. Für all jene Lebewesen, die er als nicht lebenswert erachtete, sah er die Vernichtung mittels einer eigens für dieses Ziel entwickelten »humanen« Hinrichtungsmaschine vor. In Ciolkovskijs Vision würde der Planet Erde schließlich nur mehr als Rohstofflieferant für die Kolonien auf anderen Planeten dienen. Die prekären Aspekte der Schriften Ciolkovskijs werden, so Hagemeister, in der russischen Forschung noch immer bewusst ausgeblendet, um so den Heldenmythos des Raumfahrtpioniers uneingeschränkt fortzuschreiben. Im rein exploitierenden Zugriff auf den Planeten Erde, wie er Ciolkovskij vorschwebte, sah Hagemeister eine Parallele zur US-amerikanischen neoreaktionären Bewegung, die sich strikt jeder Form der Nachhaltigkeit verwehren.

Der Komparatist Bojan Jović (Institut für Literatur und Kunst (IKUM), Belgrad) untersuchte in seinem Vortrag zu Immortality and Science Fiction – The Case of Alexander Bogdanov and Vladan Desnica, wie insbesondere in zwei literarischen Texten dieser Autoren, die ethischen Implikationen einer Gesellschaft ohne Tod narrativ entfaltet wird. Jović machte dabei besonders auf die strukturellen und ideengeschichtlichen Parallelen zur antiken Mythologie aufmerksam, wo Unsterblichkeit bereits nicht nur als Verheißung, sondern ebenso – der Promethaus-Mythos ist hier anschauliches Beispiel – als Grundlage einer nie endenden da durch den Tod nicht terminierten Strafe galt. Bodganovs Text »Fest der Unsterblichkeit« (1914) hebt dabei in erster Linie auf die veränderte Zeiterfahrung des Unsterblichen ab, für den die Unendlichkeit des Lebens mit zunehmender Lebensdauer zu einer Minderung der Lebensqualität führt. Die repetitiv erscheinenden Erfahrungen werden – ¬ähnlich wie im Prometheus-Mythos – nicht als Bereicherung des Lebens empfunden und münden in Apathie und Überdruss. In Desnicas Erzählung „Die Erfindung des Athanatik“ (1957) hingegen ist ein Unsterblichkeitsserum der Auslöser für gesellschaftstheoretische und juristische Fragen, nach Verteilungsgerechtigkeit, Klassenprivilegien und sozialer Gerechtigkeit. Beide Texte stimmen in ihrer pessimistischen Einschätzung bezüglich der Veränderungen, die sich notwendigerweise aus der Unsterblichkeit für das Leben des einzelnen und der Gemeinschaft ergeben, überein und heben die gesellschaftliche Sprengkraft hervor, die jeder Form der Unsterblichkeit innewohnt.

Der Medizinhistoriker Igor Polianski (Universität Ulm) entwarf in seinem Vortrag über die Langlebigkeit und physische Unsterblichkeit im Fokus der russisch-sowjetischen Biologie und Medizin eine Taxonomie von Unsterblichkeitskonzepten, wie sie sowohl innerhalb der Kulturgeschichte, als auch spezifischer in der Geschichte der Biologie als epistemologischer Wandel im Verständnis des Todes anzutreffen sind. Gerade in der Biologie ist die Modellierung des Sterbens bzw. des Todes eng mit den sich wandelnden Figurationen des Körpers geprägt. War man zu Beginn des 19. Jhd. im Zuge einer mechanizistischen Vorstellung vom Körper noch davon ausgegangen, dass der Tod des Menschen durch ständiges Ersetzen, der kaputten bzw. verschlissenen Einzelteile hinauszuzögern sei, so setzte mit August Weismanns Entedeckung der Unsterblichkeit der Einzeller eine organizistische These vom Sterben durch, die schließlich in Virchows Rekonzeptualisierung des Todes als Bedrohung des Zellenstaats durch ›unedle Zellen‹ mündete. Ausgehend von dieser Wende fasste Ilja Illitsch Metschnikow den Tod schließlich als immunologisches Problem. Der Tod war damit nicht mehr als Verschleiß einzelner Teile begriffen, sondern als immunologisches Problem, in Folge dessen der »Zellenstaat« durch Eindringlinge von außen bedroht wird. An der Bedeutung der Zellen hielten, wie Polianski weiter ausführte, auch andere namenhafte sowjetische Physiologen wie Bechterew, Pawlow und Bohomolez fest, die sich ebenfalls darum bemühten zeigten, verjüngende bzw. lebensverlängernde Maßnahmen in die zeitgenössische Medizin einzuführen.

In ihrem Vortrag über die Lebendigkeit-Unsterblichkeit in der Kunst der organischen Schule der russischen Avantgarde ging die Kunsthisorikerin Isabel Wünschel (Jacobs University Bremen) von der zunehmenden Verschiebung der Trennlinien zwischen Kunst, Natur und Wissenschaft aus, im Zuge derer sich die Kunst selbst als eigenständiges Erkenntniswerkzeug etablierte und in eine wechselvolle Spannung mit den Erkenntnismethoden der Naturwissenschaften trat. So verschränken sich in Michail Matjuschins Konzept des »zorved« (Abk. von zorkoe vedanie ‚scharfsinniges Sehen‘) wahrnehmungstechnische Experimente mit der künstlerischen Tätigkeit, mit dem Ziel, die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit zu erweitern. Der forschende Künstler Pawel Filonow war in diesem Sinne bestrebt, im Bild das Sichtbare wie Unsichtbare, die Erscheinung der einzelnen Zelle und die vollständige Struktur des Organismus einzufangen. Matjuschin und dessen Partnerin Jelena Guro sahen die Rolle der Kunst vor allem darin, jenes Medium bereitzustellen, in dem die Ganzheitlichkeit der Welt, und damit auch die Wahrnehmung des Lebendigen und Unsterblichen (im Sinne des Überdauerns und Universellen) zur Erscheinung kommt. Für das Künstlerpaar waren die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft stets permeabel, ihre Kunst war der Erforschung der Natur durch künstlerische Mittel gewidmet, um so ergänzend zu den Methoden der Naturwissenschaft einen alternativen und umfassenderen Zugang zur Natur zu gewinnen.

In ihrem Vortrag Unsterblichkeit und Subversion. Golem goes Underground legte die Slawistin Alfrun Kliems (HU Berlin) einerseits dar, inwiefern die jüdische Sage vom Golem, die auch dem gleichnamigen Roman von Myerinck zugrunde liegt, dem Prager-Underground als Identifikationsfigur diente. Dabei analysierte sie vor allem die Herauslösung der Golemfigur aus der mystischen Tradition. Andererseits warf Kliems die Frage auf, inwiefern in der Geschichte vom Golem selbst bereits Fragen der modernen Robotik verhandelt werden. Die Geschichte des Golems wird derart als Schauplatz jener fundamentalen Unterscheidungen lesbar, die auch den zeitgenössischen Robotik-Diskurs prägt. Denn gerade die »Sprachlosigkeit« des Golems wirft die Frage auf, inwiefern menschenähnliche und menschliche Kreaturen durch kognitive oder emotionale Kapazitäten nach wie vor unterschieden sind. Die anschließende Diskussion akzentuierte vor allem die Unterschiede zwischen der Pop-Figur Golem und ihrem Vorbild in der jüdischen Tradition, sowie die unterschiedlichen Figurationen des Menschlichen in der Robotik die in einem Kontrast zur Unterscheidung von menschlicher und göttlicher Schöpfung in der Tradition des Golems stehen.

Der Vortrag Kybernetische Unsterblichkeit in Osteuropa von Tatjana Petzer (ZfL) hob auf einer futuristischen Version des Golems ab, und zwar der kybernetischen Maschine »Golem XIV« aus Stanisław Lems gleichnamiger Erzählung über die Unvollkommenheit des Menschen aus der Perspektive des modernen Golems, der über seinen Schöpfer hinausgewachsen ist. Die Frage nach dem Bewusstseinszustand eines solchen Wesens stellt Lem selbst im 6. Dialog seines Buchs Dialoge, worin Möglichkeiten und Folgen der »Transplantation psychischer Prozesse auf eine Gehirnprothese« diskutiert werden. Von hier aus zeichnete Petzer die Diskrepanz zwischen philosophisch-literarischen Überlegungen zur Kybernetik und deren Ansiedlung in der kommunistischen Wissenschaft nach, war doch die Kybernetik in der Sowjetunion bis in die 1950er Jahre als reaktionäre Pseudowissenschaft des Westens verpönt, bevor sie in den 1960ern rehabilitiert und den Staatsinteressen unterstellt wurde. Eine in dieser Zeit verfasste Erzählung Gennadi Gors beschreibt die kollaborativen Wege von Kybernetikern, Mathematikern und Physiologen zur Schaffung von Künstlicher Intelligenz und holografischer Existenzformen, nicht ohne die auf dieser Grundlage mögliche Abschaffung des Todes für die menschliche Existenz zu problematisieren. Eine interessante spätere Spekulation in diesem Zusammenhang stellt das Bio-Psi-Feld des weißrussischen Philosophen Alexej Manejew dar, welches das Gedächtnis als Lebenssubstrat einzuspeichern und nach dem Tod abzurufen vermag. Wie Petzer abschließend am Beispiel des Avatar-Projekts der russischen »Initiative 2045«konstatierte, ist die Verschränkung von Kybernetik und Unsterblichkeit gegenwärtig ein manifester Bestandteil von Zukunftstechnologien. Die anschließende Diskussion machte deutlich, dass kybernetische Existenzformen wie post-organische Identitäten/Entitäten und Netzstrukturen nicht mit traditionellen Kategorien betrachtet werden können.

Der Workshop endete mit der Vorführung eines Ausschnitts aus dem Dokumentarfilm »The Immortals at the Southern Point of Europe« (2013) von Yiogios Moustakis über eine Gruppe russischer Wissenschaftler, die sich um einen Physiker, der das Reaktorunglück in Tschernobyl überlebte, gebildet hat und bereits Ende der 1990er Jahre auf die griechische Insel Gavdos ausgewandert ist. Hannes Puchta (HU Berlin/ZfL), der den Film einführte und kommentierte, beleuchtete, wie diese Gruppe in Gavdos, einem mythologischen Ort der Un/Sterblichkeit, ein weitgehend autonomes Leben auf der Suche nach Unsterblichkeit führt. In seinem Kommentar zu dem im Film von dem Überlebenden verlesenen Manifest zitiert Puchta aus Derridas Kommentar zu Blanchots Bleibe, wonach man im Augenblick des Todes unsterblich ist (»Ich bin tot und eben nicht tot«). Das Wunder des Über- und Weiterlebens erzeuge mit dem unsterblichen Individuum demnach auch Isolation und Einsamkeit, die nun durch das kollektive Streben nach Unsterblichkeit überwunden werden sollen. Diese Konstitution ist Puchta zufolge bereits in der Doppelbedeutung des Wortes ›Überleben‹ enthalten, das zum einen das posttraumatische Weiterleben nach der Katastrophenerfahrung meint und zum anderen transformiertes todloses Leben bedeutet, das aufgrund dieser Veränderung als dem normalen Leben übergeordnetes Über-Leben gefasst werden kann.


Protokolliert von Lina Berndt und Sophie Rolf
Redaktion: Hannes Puchta