feature | Synergetik: undiszipliniert denken

für Sigrid Weigel zum 70. Geburtstag
von Tatjana Petzer

Mit der Gründung des Black Mountain College (BMC) war 1933 in North Carolina ein unkonventioneller und inspirierender Ort der Bildung entstanden, an dem Interdisziplinarität und Experiment Programm waren. Aus Deutschland emigrierte Bauhaus-Künstler, darunter Josef Albers, zählten zu den ersten berufenen Professoren und setzten am BMC die Utopie der Moderne fort: die Verschmelzung von Wissenschaft, Kunst und Leben. Diese fand ihren Ausdruck in der Arbeit an gemeinsam durchdachten und erprobten Projekten. Nicht Inhalte, sondern Methoden standen im Vordergrund des Ausbildungskonzepts, das kurz als ‚forschende Lehre‘ bezeichnet werden könnte.
Ebenso unkonventionell wie der Campus am Lake Eden als Ort der Bildung war, so wegweisend war er als Stätte künstlerischer Forschung. Ein tiefgreifendes Verständnis für Design als interdisziplinäre Wissenspraxis wurde unter anderem von dem in Chicago dozierenden Visionär Richard Buckminster Fuller vermittelt. 1947 kam Fuller das erste Mal für eine Vortragsreihe an das BMC und übernahm hier in den beiden darauffolgenden Jahren die Leitung der Sommerschule. In seinen Vorträgen sprach Fuller über energetische Strukturen, Raumprinzipien jenseits herkömmlicher Geometrien, die eine übersummative Relationalität zeigten und von ihm auch mit dem Begriff ‚synergy‘1) oder der Formel „1+1=4“ beschrieben wurden. Anhand selbstgebauter Modelle veranschaulichte er die räumliche Modulation und Transformierbarkeit geometrischer Grundkörper, insbesondere des Polyeders. Diese performative Lehrpraxis, die den Hörsaal in ein „ambulantes Laboratorium“ verwandelte, charakterisierte Joachim Krausse treffend als „Vorschule der Synergetik“.2) Fullers Hands-on-Modelle dienten nicht nur der Anschaulichkeit, sondern waren vielmehr Instrumente eines gedanklichen Transformationslabors – der Explorations in a Geometry of Thinking. So lautete der Untertitel der später in Buchform erschienenen Synergetics, woran Fuller seit den 1940er Jahren intensiv arbeitete. In Zusammenarbeit mit Albers, der zu diesem Zeitpunkt Rektor des BMC war, und Teilnehmern der Sommerschule wurde die praktische Anwendbarkeit von Fullers energetischen Geometrien für den modernen Strukturleichtbau gewissermaßen katalysiert und damit auch die methodische Grundlage der Synergetik untermauert.
Der Transfer von Ideen und Modellen in die Praxis war Teil des Studiums. Fullers Projekt für den Sommer 1948 sah den Bau seiner ersten geodätischen Kuppel mit einem Durchmesser von fast 15 und einer Höhe von sieben Metern bei einem Gewicht von weniger als 135 Kilogramm vor; sie brach jedoch unmittelbar nach Fertigstellung zusammen. Das Scheitern des Projekts verlieh dieser Konstruktion den Namen Supine Dome. Nach vorgenommenen Korrekturen gelang die Errichtung der Kuppel und die Studenten hingen samt Lehrmeister schwebend an dem fragilen Gerüst, um die Stabilität der erschaffenen Sphäre zu erproben. Die Aufgabe im Sommer 1949 bestand in der Entwicklung einer doppelwandigen, aufblasbaren Plastikumhüllung für die Kuppel. Material und Struktur wurden haptisch und physisch erkundet – als ob ein Fremdkörper angeeignet, eine Methode verinnerlicht werden sollte. Diese Herangehensweise, hands-on work, und nicht die Mathematik bildeten das Fundament für den geodesic dome, der dann 1954 patentiert wurde.
Fullers Vorträge am BMC inspirierten den Malereistudenten Kenneth Snelson zur künstlerischen Auseinandersetzung mit skulpturalen Konstruktionen, die auf dem Prinzip von tensegrity – zusammengesetzt aus ‚tension‘ (Spannung) und ‚integrity‘ (Ganzheit, Zusammenhalt) – beruhten. Sie bildeten ein in sich geschlossenes, völlig neuartiges sphärisches System, da die Druckelemente (Stäbe) gänzlich voneinander gelöst und nur durch Zugelemente (Seile) miteinander verbunden waren. Snelsons Skulpturen, insbesondere das XPiece, inspirierten wiederum Fuller zur Entwicklung von Basissystemen zur Anwendung im Leichtbau. Die Erfindung dieses Tragwerkssystems, in dem sich Strukturen durch Druck und Spannung selbst stabilisieren, revolutionierte die Architektur. Sie ermöglichte etwa Kuppelkonstruktionen, deren Tragkraft mit steigender Größe schneller anwuchs als ihr Eigengewicht und die somit beliebig groß gestaltet werden konnten.
Ausgangspunkt der Erfindungen waren ein interdisziplinäres, offenes Umfeld und aus einfachen Holzstäben und Gummibändern gefertigte Raumnetze, die Beweglichkeit, Mobilität und Transformierbarkeit von Konstruktion demonstrierten und Verbindungen kinematisch erfahrbar machten. Zum Beispiel durch die Faltbarkeit eines Polyedermodells, auch Vectorequilibrium genannt, das Fuller zum ‚Tanzen‘ brachte; deshalb die entsprechende Bezeichnung Jitterbug-Transformation. Seine Tochter, die Tänzerin und Ethnochoreologin Allegra Fuller Snyder, beschrieb entsprechend dieser synergetischen Grundidee die Interdependenzen zwischen korporaler, räumlicher und kollaborativer (choreographischer) Arbeit und Ästhetik. Daraus erwachsen transformative Dynamiken, die wiederum Veränderungen in Kognition, Sensorik, Motorik, Emotion usw. nach sich ziehen können.3) In dieser Hinsicht eröffnete der neue Umgang mit Geometrien auch neue Denkräume.
Das universitäre Experiment am BMC ging weit über selbstbestimmtes Lernen und Lehren hinaus. Es handelte sich um nichts Geringeres als um die Gestaltung der Zukunft, um Rethinking mit großem Einfluss auf den gesellschaftlichen Aufbruch in den 1960er Jahren. Auch Fullers innovative Konstruktionen wie falt- und zerlegbares Raumfachwerk im Besonderen und seine Designwissenschaft, kurz: Synergetik, im Allgemeinen standen im Dienst einer Vision und Verantwortung für das „Raumschiff Erde“.4) Der forschende Architekt modelliert nach dem selbststrukturierenden Vorbild der Natur und an der Schnittstelle von Kunst und Technik, Wissenschaft und Organisation, auf diese Weise agiert er als vorausschauender Mitgestalter des Planeten. Für Fuller war es die Epoche des „World Design“.5) Die Devise lautete: global umdenken, gemeinsam umlenken, synergetisch umgestalten. Als „comprehensive anticipatory design science“6) schärfte die Synergetik das Bewusstsein für die Rolle des Einzelnen im Ganzen und die Verbindungen zwischen den Teilen, Disziplinen und Sphären.
Ob die Forderung nach Interdisziplinarität, die heute wieder verstärkt an Bildung und Forschung herangetragen wird, mit der Aufforderung verbunden ist, die Welt wie am BMC oder bei Fuller undiszipliniert zu denken, sei dahingestellt. Doch ist sie ein Indiz dafür, dass das Bewusstsein für mangelnde Verbindungen jenseits von Spezialisierungen, für innovative Methoden und Modelle der Problemlösung, vor allem aber für integratives Wissen geweckt wurde. Oder aber für SynergieWissen. Seit den 1970er Jahren stützen sich zeitgleich und unabhängig von Fullers Synergetik Systemtheorie und interdisziplinäre Forschungs- und Praxisfelder heterogener Disziplinen wie Medizin, Physik, Soziologie, Ökonomie und Ingenieurwesen auf den Synergiebegriff. In den Übertragungen zwischen den Disziplinen offenbarte dieser seinen universalen Anspruch, in holistischen Modellbildungen seine treibende Kraft.
Bei der Forschung an den Rändern von Geistes- und Naturwissenschaften, an denen sich auch die Kulturwissenschaft bewegt, bleibt die inflationäre Rede von Synergie nicht aus, doch ist Synergie keine selbsterklärende Methode. Für die Arbeit am ZfL hat Sigrid Weigel die Erforschung und methodische Anwendung von kulturwissenschaftlichen Schlüsselbegriffen angeregt, die eine interdisziplinäre Zugangsweise und Untersuchungsanordnungen ermöglichen und der Komplexität von Problemen sowie der Vielfalt ihrer epistemischen Bezüge gerecht werden. Darin liegt nach wie vor der Kern eines interdisziplinären Forschungsdesigns: bewegliche Ideen und transformierbare Modelle, die Verbindungen denkbar machen.

1)
Fuller definierte ‚Synergie‘ als nicht-additives, unvorhersehbares Verhalten von Systemteilen in einem Ganzen, das nicht auf seine Bestandteile reduzierbar ist. Vgl. R. Buckminster Fuller: Synergetics. Explorations in the Geometry of Thinking, unter Mitarbeit von E. J. Applewhite, New York, NY 1975, S. 3.
2)
Joachim Krausse: „Buckminster Fullers Vorschule der Synergetik“, in: R. Buckminster Fuller: Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften, Dresden 1998, S. 214–306.
3)
Vgl. Allegra Fuller Snyder: „Synergetics and Dance“, Vortrag im Rahmen des Symposiums „Synergetics in the Arts“, Noguchi Museum New York am 20. November 2005, auf: https://www.youtube.com/watch?v=ptzLjQg_9QY (Stand März 2020).
4)
R. Buckminster Fuller: Operating Manual for Spaceship Earth (1969), dt.: Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde (Anm. 2).
5)
R. B. Fuller: „World Design Initiative“ (Mexico Lecture, 1963), in: ders.: Inventory of World Recources. Human Trends and Needs. Document 2: World Design Science Decade 1965–1975 Phase 1, Carbondale, IL 1964, S. 1–103, hier S. 21–36.
6)
R. Buckminster Fuller: “A comprehensive anticipatory design science”, in: Royal Architectural Institute of Canada 34 (1957) 9, S. 357–361.


Zitierung nach Erstveröff.:
Tatjana Petzer: Synergetik: undiszipliniert denken (03.03.2020), auf: www.undisciplined-thinking.de, released in 2022