Ließe sich meine Kulturgeschichte der sphärischen Bauten als Visionen für die politischen und medialen Kulte von Totalität seit 17891) in irgendeiner Weise mit Richard Buckminster Fullers Begriff der Synergie zusammendenken? Wo könnten die Verbindungslinien zwischen Fullers synergetischem Universum, dessen geodätischen Konstruktionen, und den jakobinischen Kugelbauvisionen liegen?
Die erste Verbindung wäre: Die Denkfigur der Totalität, welche die Kugelbauvisionen begründet, ist auch Voraussetzung der Vorstellung von Synergie. Die Zweite: Beide Kugelbauvisionäre – Fuller wie die Jakobiner – teilen den Glauben an die Perfektibilität der Welt. Bei Fuller läuft dies über das denkende Erschließen ihrer Funktionsweisen und die daraus erschlossenen Verfahren und Technologien, bei den Visionären des Kugelbaus über die Totalisierung eines Gesellschaftsmodells durch die Sakralisierung von Politik. Gemeinsam ist diesen beiden Modi der Perfektibilität des Weiteren der Glaube, die Wahrheit zu kennen und diese in einem System auszumachen, deren strukturelles Abbild die Kugel ist. Das geht bis ins Fullersche Modell des Denkens: „Alle Wege des Systems müssen topologisch und kreisförmig aufeinander bezogen sein, damit [ein] polyedrisches Verständnis in unseren spontanen – ergo ökonomischsten – geodätisch strukturierten Gedanken erzielt werden kann.“2)
Mit der Figur von Kreis und Kugel als vollendete Gestalt ist seit Jahrtausenden eine Konstante mythisch-religiösen Denkens verbunden – dies ist eine weitere Parallele zum Begriff der Synergie. Nach Boullées Entwurf eines Kenotaphs für Newton 1784 wurde der Kugelbau als Ikone radikaler Imagination von Vollkommenheit, kosmischer Universalität und allseitiger Symmetrie während der Jahre des Terreur in die jakobinische Bildsprache für die Kulte revolutionärer Volkssouveränität übernommen. Der Mythos der Kugel ist der höchster Vollendung: Für Boullée, der die Kugel in die Architektursemantik überführt, ist die Kugel eine Form, “die alle Eigenschaften der Körper in sich vereinigt.“ Für Boullée wie für Fuller liegt in der perfekten geometrischen Form das Grundelement der Natur. Aus der Kugel als unendlichem Polyeder leitet sich außerdem für Boullée „aus der perfektesten Symmetrie […] die unendlichste Vielfalt ab.“ Aus der Mathematik der Körper3) erschließt sich also für die Kugel unabhängig von einer Gestaltähnlichkeit mit der Erdkugel die Metapher für eine Totalität, die nirgends verankert ist, ohne Oben und Unten, ohne Hierarchie und ohne Schwerpunkt. Ein Körper der Körperlosigkeit, der Immaterialität, Bild einer Abstraktion und als solches einer Transzendenz jenseits von Geschlecht oder himmlischer Autorität.
Die Kugel erscheint so als die Phantasie eines Einsseins ohne ein Anderes. Als solche wird sie die Metapher der Volkssouveränität selbst, gedacht als Totalität ohne Hierarchie und ohne innere Differenz. Sie signalisiert, dass das Volk als Souverän ohne die Notwendigkeit einer externen Autorisierung zur Macht auszukommen vermag, seine Herrschaft also aus sich selbst generiert. Die Kugel als – im Entwurf imaginierter – architektonischer Raum schien den perfekten Erfahrungsraum zu bilden für etwas, das bisher noch keine visuelle Repräsentation in einem symbolischen Körper der Einheit gefunden hatte: die Vielheit der das politische Kollektiv “Volk” bildenden männlichen Subjekte, denn sie repräsentierte ja im mathematischen Sinne die vollkommene Einheit einer unendlichen Vielheit – eine schöne Umschreibung von Synergie. In der Zeichnung – der Architekturvision – der Kugel ist also die Vorstellung des vom Volk oder seinen Vertretern betretbaren, erfahrbaren Kultraums, der die der Kulthandlung Beiwohnenden und die ‚Priester‘ dieses Kultes (Abgeordnete zum Beispiel) gleichermaßen umhüllt, verbunden mit dem Bildzeichen der Totalität. Die Suggestion der Anschauung ist verknüpft mit jener der räumlichen Erfahrbarkeit.
Die Kugel fand zwar Aufnahme in die politische Ikonographie der Revolution als eine Figur, welche die Einheitsphantasmen der Volksherrschaft raumbildlich um- und beschrieb; allerdings gab sie gleichzeitig das strukturelle Repräsentationsproblem für ein Zentrum dieser Herrschaft preis: ihre buchstäblich leere Mitte. Die daraus resultierende Spannung zwischen dem streng stereometrischen Baukörper und der zu füllenden Mitte kann als Erscheinungsform des ungelösten Widerspruchs zwischen Totalitätsphantasien und den Partikularitäten kultureller und gesellschaftlicher Verfasstheit gesehen werden: Die Kugel ist gleichsam das Signet der an diesem Widerspruch gescheiterten Planungsstrategie der Jakobiner. Das Wort „Planungsstrategie“ wiederum ist eine Leihgabe aus Fullers Konkreter Utopie. Es verweist auf die Annahme der Perfektibilität der Welt zurück, die gerade jene Utopien gefährlich macht, welche davon ausgehen, realisierbar, also planbar zu sein. Im Rahmen eines World Planning bedarf es laut Fuller eines „comprehensive anticipatory design [for the] solution of the comprehensive family of economic, technical and scientific factors governing such a world-planning program“.4)
Der Zusammenhang von Kugel und World Planning ließe sich, in Analogie zu den Kugelbau-Visionen der jakobinischen Architekten, auch in einigen architektonischen Entwürfen im prästalinistischen Sowjetsystem lesen. Die Massenversammlungsorte und Hoheitsräume des herrschenden Volkes im Zeichen der Egalität werden in beiden Systemen mit Vorliebe als Sphärenbauten imaginiert. Ein prominentes Beispiel dafür ist Ivan I. Leonidovs Entwurf für ein Lenin-Institut in Moskau von 1927,5) dessen Zentrum, eine an einem Gerüst verspannte Glaskugel, ein „wissenschaftlich-optisches Theater“ bilden sollte, das wiederum mit weiteren Bauten (via Buchtransportsystem, Telefon und Radio) eng vernetzt ist. Die angedachte Nutzung als Planetarium, Auditorium und als Massenversammlungsraum und die Baumetaphorik verschränken sich hier in einer Weise, welche die simple Abfolge einer Funktion, der dann die Form folgt, außer Kraft setzt. Die sich versammelnden Massen und der massenhafte Blick in den Kosmos im Planetarium scheinen sich als Funktionszuweisungen gar erst aus der Form der Kugel und ihrem Bedeutungsfeld abgeleitet zu haben. Die Kugel repräsentiert dann nicht nur die Egalität, sondern sie scheint auf als Erfahrungs- und Partizipationsraum dieser Gleichheit – sie bildet das Theater, auf dem diese gleichzeitig dargestellt und erfahrbar wird. Schauspieler, Dargestellte und Zuschauer werden identisch, eine selbstreferenzielle Struktur, die dem politischen Kult der Moderne zu eigen ist.
Während hier die Kugel als Modell, Metapher und Erfahrungsraum für ein neues Staats- und Gesellschaftssystem steht, bei dem alle Menschen gleich sind, wechselt die Karriere der Kugel mit den Sphärenbauten auf der Weltausstellung (in der Nachfolge Fullers geodätischer Konstruktionen) vom Modus des politischen Imaginären in den globaler medientechnologischer Vernetzung. Der deutsche Pavillon in Osaka 1970 von Karl-Heinz Stockhausen ist mit seiner geodätischen Kugel, die innen von einem Netz aus Licht- und Lautquellen überzogen ist, ein Beispiel dafür. In der räumlichen wie wahrnehmungstechnologischen Totalität wird hier in der Gemeinschaft eine Einheit ohne äußere Grenzen (und ohne äußeren Feind) erfahrbar.
Vor dem Hintergrund der heutigen Vielfalt digitaler Netzwerk-Praktiken hingegen scheint sich die Verschmelzung von Zentralität und Vernetzung verflüchtigt zu haben; heutige Netz-Topologien werden moralisch wie architektonisch gegen zentralisierte, hierarchische Strukturen von Bürokratie und Kontrolle positioniert.6) Dass die ersten digitalen Netzwerke für das Militär entwickelt wurden7) und dass das Pentagon auf die hierarchielosen Organisationsformen „militanter“ Netzwerke Antworten sucht und findet, scheint diese Vorstellungen nicht ihrer Faszination zu berauben. Ein Beispiel dafür ist die plurizentrale Netzwerkstruktur auf dem Titelblatt des Network-Centric Warfare Primer von 2003, herausgegeben vom Office of Force Transformation des United States Department of Defense, in die schwere Waffen und digital hochgerüstete Soldaten eingearbeitet sind.
Angeregt von den Post-9/11-Entwicklungen in der militärischen Doktrin zur Anti-Terror-Kriegführung, hat der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Samuel Weber „Networks, Netwar, and Narratives“ in seinem gleichnamigen Essay von 2004 zusammengedacht.8) Seine Frage ist: Welche Semantik der Einheit hält ein Netzwerk zusammen? Netzwerke, horizontal und dezentral organisiert, sind räumlich-zeitlich dispersiv und relativ indeterminiert; ihre Grenzen sind qua Struktur schwer zu bezeichnen. Ihnen fehlt ein Zentrum, eine Führung, eine Hierarchie. Im traditionellen militärischen Denken sind dies Defizite, denen jedoch auch Vorteile gegenüber stehen: Wo es kein Zentrum und keine Führung gibt, können diese auch nicht zerstört werden. Wie also können diese Vorteile von Netzwerkstrukturen mit den militärischen Notwendigkeiten von Führung und Lenkung vereint werden? Das Militär scheint an diesem Punkt von der Wirtschaft zu lernen, die für ihre Umsetzung digitaler Globalisierung in unternehmerische Strategien wiederum militärische Begriffe eingeführt hat: die „Mission“, den „Target“. Und in der Tat, das Militär greift nun zu Strategien der Zentralisierung und Fokussierung von Netzwerken, die den „Mission Statements“ der Wirtschaft ähneln: Es sieht die Notwendigkeit von übergreifenden Narrativen, die nun die Führerpersönlichkeit ersetzen und den „dispersed events“9) einen Zusammenhalt geben sollen. An die Stelle des Helden, des Führers, tritt die „doctrinal leadership“, die den Informationsfluss formen soll und jene Geschichte hervorbringt, welche die militärische Doktrin, ihre Strategie und ihre Taktiken informiert.
Ich denke, dies Beispiel zeigt, dass Macht und das Denken in synergetischen Prozessen nicht getrennt gesehen werden können, so wie die Einheitsimagines der Französischen Revolution nicht einfach als heroische Vorgeschichte moderner westlicher Freiheit gelesen werden können. Die Kugelmetapher der Jakobiner wie die Netzmetapher des digitalen Zeitalters, welche die dichte Verwebung von totalisierendem Traum und Technologie begleitet, waren und sind getragen von dem Wunsch, Differenzen wie die des Geschlechts und die sie begleitenden Oppositionen zu transzendieren. Ich kann nicht anders, als misstrauisch zu sein gegenüber einer Synergetik als Planungsstrategie, denn sie scheint mir von „oben“ – dem Ganzen – aus gedacht, nur wer gibt die Systematik des jeweils imaginierten Systems vor? Mit der Synergie verbindet sich nolens volens die Frage der Macht; die Welt als selbstregulierendes System zu denken und dies als Planungsansatz zu nehmen, birgt einen m. E. grundsätzlichen Widerspruch, der einer Leugnung gesellschaftlicher Realitäten entspringt, an denen sich schon Fullers Utopie die Zähne ausgebissen hat.10) Die Spannung zwischen think global act local lässt sich ebenso wenig auflösen wie jene Differenzen, die sich bis ins kleinste Lokale um die Aushandlung von Interessen bemühen müssen.
Ich habe die Kugelmetaphorik als Symptom eines Phantasmas gedacht, das sich gegen die Differenz wendet – letztlich ein Bild sozialer Gewalt: der zwangsläufigen Immersion (medien- und wahrnehmungstechnisch gedacht) und Integration (gesellschaftstechnisch gedacht), unter Ausschluss des jeweils Nicht-Integrierbaren. Die moderne Synergie als utopisches Modell gehört diskurshistorisch zur aufkommenden Massengesellschaft, welche totalisierende Organisationsformen von Gesellschaft als notwendige Konsequenz erscheinen ließ (und das gilt auch für die USA). Hinter ihr steht das Begehren einer Perfektibilität von Welt, nur: wer determiniert den Fokus?