feature | Imaginäre Synergie

Von Anar Imanov

Der moderne Poeta doctus Velimir Chlebnikov gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten Grenzgängern der russischen Avantgarde. Er ist sowohl ein monistisch und naturwissenschaftlich denkender Künstler, der konzeptuelle Strategien erarbeitet, als auch wissenschaftlicher Prophet und spekulativer Prognostiker, immer auf der Suche nach dem Schlüssel zu den Gesetzen der Zeit und des Schicksals. In Chlebnikovs Werk verbinden sich die utopischen Visionen eines „Budetljanin“ (was auf Russisch etwa “Zukünftler” bedeutet) und die metaphysische „Zukunftspoetik“ mit dem „archaisierenden ’mythopoetischen’ Denken“ und der „wortschöpferischen“ philologischen Arbeit.

Am Beispiel des Textes „Das mathematische Verständnis der Geschichte. Gamma des Budetljanin“ möchte ich ein zentrales Bild Chlebnikovs, die Synergie näher erörtern. Der Text bildet den dritten und abschließenden Teil des programmatischen Aufsatzes „Unsere Grundlage“ von 1919 und stellt ein visionäres Konzept dar, in dem sich soziale, anthropologische und naturphilosophische Anschauungen des Dichters im künstlerisch-musikalischen Bild des Gamma vereinigen. Woraus besteht das budetljanische Gamma? Wenn die Naturskala der Menschheit, ihr grundlegender Rhythmus, gemessen werden kann, so Chlebnikov, dann ist dies nur mithilfe von Feststellung der besonderen Zeiträume möglich. Chlebnikov stellt Zeiträume fest und zeigt Korrelationen - in der Absicht, die Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, mit denen die Geschichtsrhythmen bestimmt werden können. Zunächst werden 317 Jahre festgelegt – ein Klang „zwischen zwei Ausschlägen der Saite“. „Wir werden sehen, dass die Gesetze Napoléons 317×4 nach den Gesetzen Justinians auf die Welt kamen – im Jahre 533. Daß zwei Kaiserreiche, das Deutsche 1871 und das Römische 31, 317×6 nacheinander worden sind“. Die Rhythmen entstehen also dadurch, dass ähnliche Ereignisse, die besonderes wichtig für die Menschheit zu sein scheinen, in bestimmten Zeitabständen geschehen und somit mathematisch messbar sind. Daraufhin legt Chlebnikov zusätzliche Bindeglieder fest: 317 Tage, vierundzwanzig Stunden, 237 Sekunden, ein Schritt des deutschen Infanteristen oder der Herzschlag einer Frau, die der Zahl 80 entsprechen. Durch die spekulative Kalkulation (durch Dividieren und Multiplizieren der Bindeglieder) werden alle Zahlen in einer zusammenhängenden Reihe verbunden. Also „wenn ein Infanterist 80 Schritte in der Minute tut, dann tut er an einem Tage 365×317 Schritte, d.h. ebenso viele Schritte wie in 317 Jahren Tage enthalten sind“. Diesen Vorgang nennt der Dichter „Zeit eines Schlages der Seite der Menschheit“. Genauso verhält sich Herzschlag zu Tagen und Jahren. Die Kette der Zeiten, die immer durch die Zahlen 365/317 dividiert werden können, bilden die Hauptachse. Diese Reihe der verringerten Zahlen bzw. Zeiten ist das Gerüst des budetljanischen Gamma, „das mit dem einen Ende den Himmel aufrührt und mit dem anderen sich in den Herzschlägen versteckt“. Chlebnikov nennt es die Einführung in die „große Klangkunst der Zukunft“ und füllt das Gerüst zusätzlich mit Daten verschiedenster Arten aus, die durch das Verhältnis der festgelegten Intervalle miteinander korrelieren. Die Schwingungen verschiedenster Art werden dadurch rhythmisiert. Es sind Daten aus der Geologie – das Schwingen des Festlands; astronomische – die Bewegungen der Planeten des Sonnensystems; biologische – Herzschlagrhythmus von Mann und Frau sowie Schritte eines Infanteristen; anatomische – Zahl der Muskeln und Knochen sowie die Oberfläche eines Blutkörperchens; physikalische – am Beispiel der Schallwelle; historische – Daten der Weltgeschichte: Kriege und Revolutionen, Staatsgründungen und Niedergang großer Reiche; sozial-gesellschaftliche und kulturelle – Geburtsdaten von berühmten Dichtern und Denkern. So entsteht eine auf Schwingungszyklen und Zahlgesetzmäßigkeiten basierende globale Korrelation zwischen allen möglichen Ereignissen, die sowohl individuelle Daten als auch Naturprozesse enthalten. Chlebnikovs Konstruktion zielt einerseits darauf, durch die mathematischen, astro- und historiometrischen Verhältnisse das Zusammenwirken der Ereignisse und Prozesse aus verschiedenen Systemen darzustellen, andererseits zeigt der Dichter damit eine Synchronisation der Schwingungen, eine allumfassende Rhythmisierung, die Raum und Zeit, Natur und Kultur in einem Bild verschränkt.

Dabei kann die Zusammenwirkung auch energetisch interpretiert werden: Die Kategorie der Zeit deutet der Dichter als eine Art physikalische Substanz, die Lebensprozesse im gesamten Universum generiert . Jede Schwingung, jedes Pulsieren, sei es ein Ereignis oder ein einziger Herzschlag, ist eine Energieform oder Energiegröße, die zeitlich fixiert und aufgefasst wird. Durch die Auffindung des Rhythmus, der diese Größen verbindet, entstehen energetische Strukturen und Korrelationen: und durch die Miteinbeziehung weiterer und weiterer Gebiete verschmelzen sie in ein globales synergetisches System, in eine einzige Schwingung kosmischen Ausmaßes.

Das Hauptanliegen Chlebnikovs jedoch und der Kern seiner Theorie ist die prognostische Kraft, die er im Gamma-Text und in anderen seiner späten Werke mithilfe von spekulativen mathematischen Berechnungen umsetzt. Durch die Aufdeckung oder Erfindung der Zeitgesetze, die eine bestimmte Rhythmisierung von Ereignissen sichtbar machen, wird ein Modell konstruiert, das Daten und Relationen aus der Vergangenheit in die Zukunft projiziert und diese vorhersagbar macht. Die Zukunft wird damit enträtselt. Dabei betont Chlebnikov, dass sich die Zeit in eine Art Raum verwandelt: „Wenn die Zukunft dank dieser Berechnungen durchsichtig wird, geht das Gefühl für Zeit verloren, es ist, als würde man reglos am Deck der Zukunftsvorahnung stehen. Das Zeitgefühl verschwindet und gleicht der Fläche vor und hinter einem, es wird zu einer Art Raum.“ Durch dieses Verfahren wird stillschweigend der wichtigste Übergang vollzogen: von physikalischen Zeiteinheiten und Relationen in die metaphysische Dimension. So baut der Dichter seine „Schicksal-metrie“ auf: Gesetze der Zyklizität und des Pulsierens der Ereignisse verwandeln die Zukunft in eine Art ewige Gegenwart. Mit der Beherrschung der Zukunft lässt sich auch eine gewisse Emergenz zeigen, wie die Entzifferung des Schicksals und die Überwindung des Todes. Somit proklamiert Chlebnikov durch diese wissenschaftlich fundierter Konzeption seiner Raum-Zeit-Theorie den qualitativen Sprung aus der physikalischen Welt in den utopisch-metaphysischen Bereich. Das synergetische Prinzip ist hier konstitutiv: das Zusammenwirken der zeitlichen Ereignisse in Mikro- und Makrokosmos verschmilzt in eine Art Resonanz, die die Zeitkategorie radikal transformiert. Die Überwindung des Todes stellt der Dichter als Wiedergeburt oder ewige Wiederkunft dar: „Auf diese Weise ändert sich auch unser Verhältnis zum Tode: wir stehen auf der Schwelle zu einer Welt, in der wir Tag und Stunde wissen werden, wann wir wiedergeboren werden, betrachten den Tod als ein zeitweises Baden in den Wellen des Nichtseins“.

Ein weiteres Leitmotiv ist die Berechnung und Beherrschung von Krieg und Schicksal. Gerade um den Krieg und das fatale Schicksal „in der Mausefalle zu fangen“ oder sie „im Tintenfass zu ertränken“, konstruiert er seinen mächtigen Mechanismus.

Somit entsteht mit dem Bild des Gamma ein Konzept, das durch energetisches Zusammenwirken einen harmonischen Zusammenklang avantgardistischer Art abspielt. Dieses harmonische Bild führt natürlich vor allem zu Pythagoras' spekulativer Kosmologie und zum „logos musicus“ der Antike. Die Lehre Pythagoras', den Chlebnikov übrigens nur als seinen Nachfolger anerkannte, verbindet durch die Messung der Intervalle Mathematik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie in einem kosmologischen Bild der Sphärenharmonie. Eine andere Schicht dieses Textes ist die nietzscheanische: die Idee der ewigen Wiederkunft sowie des Übergangs zum höheren anthropologischen Horizont korrelieren mit Nietzsches Konzeption und geben ihr mit der Metawissenschaft Mathematik eine andere Richtung.

Es fällt nicht leicht, Chlebnikovs Konzept des Gamma in einen gängigen Diskurs einzuordnen. Ist es der Versuch einer naturwissenschaftlich fundierten Theorie oder gehört es in die Reihe der künstlerischen Praxen? Was steckt hinter diesem mathematisch-kosmologischen Konzept und wozu dient es? Diesen Fragen gehe ich nach und versuche, durch die Verknüpfung von wissenschaftlichen und prophetischen Elementen zu zeigen, wie die imaginäre Konzeption Chlebnikovs funktioniert und was sich dahinter verbirgt. Das Gamma stellt ein exemplarisches Beispiel avantgardistischer Konzepte dar, die ich in Rahmen des Dissertationsprojekts “Wissenschaft und Prophetie in der Dichtung der russischen Avantgarde” untersuche. Den Gegenstand der Untersuchung bilden diejenigen ästhetischen Entwürfe und literarischen Programmatiken, die durch Sprechakte der Verkündung, die Dichtung und die exakten Disziplinen miteinander verschränken sowie wissenschaftliche Mythologeme konstituieren. Ziel der Dissertation ist es, der universalistischen Konzeption der russischen avantgardistischen Dichtung näher zu kommen, die vor dem Hintergrund sich wandelnder Wissens- und Wissenschaftssysteme in der Moderne den Versuch unternahm, mittels projektivem Denken und prophetischem Schreiben zwischen Organischem und Dinglichem, Phantasmen und Wissen, Glauben und Ratio zu vermitteln.


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Zitierung:
Anar Imanov: Velimir Chlebnikovs imaginäre Synergie, in: Tatjana Petzer (Hg.): SynergieWissen. Interdisziplinäres Forum & Open Access Lexikon, 01.08.2011, http://www.synergiewissen.de