feature | Autopoiesis und Synergetik

Zwei unterschiedliche Konzepte der Selbstorganisation

 von Marie-Luise Heuser

Die Theorie der Autopoiesis und die Theorie der Synergetik werden oft synonym als Selbstorganisationstheorien aufgefasst, obwohl es gravierende Unterschiede zwischen beiden gibt, die das konzeptionelle Verständnis von „Selbstorganisation“ betreffen. Kurz zusammengefasst bezieht sich die Autopoiesistheorie auf die Selbstproduktion bereits vorhandener lebender Systeme, während die Synergetik fundamentaler nach dem Ursprung und der Evolution von Ordnungszuständen fragt. Autopoiesis findet im dynamischen Gleichgewichtszustand statt, während synergetische Prozesse kritische Ungleichgewichtszustände voraussetzen. Im Vergleich mit der emergenten Synergetik ist die Autopoiesis ein konservativ-systemerhaltender Prozess. Übertragen auf soziale Systeme bedeutet dies, dass mit der Autopoiesistheorie Innovation oder die Entstehung neuer Gesellschaftsstrukturen nicht thematisierbar sind, während mit der Synergetik gerade diese theoretisch erfasst werden sollen.

Die konzeptionellen Unterschiede zwischen Autopoiesis und Synergetik resultieren zum Teil aus ihrer disziplinären Herkunft. Die Autopoiesistheorie ist mit dem Namen des Neurobiologen Humberto Maturana verbunden. Die Synergetik wurde von dem Physiker Hermann Haken auf der Basis seiner Laser-Theorie entwickelt. Maturana bezieht seine Theorie daher vornehmlich auf biologische Systeme, während Haken physikalische zum Ausgangspunkt hat. Biologische Systeme sind immer schon organisiert, während physikalische aus der Unordnung und Unorganisiertheit heraus entstehen können und damit fundamentalere Fragen ermöglichen. Die Autopoiesis hat die Reproduktionsdynamik bereits organisierter Systeme im stationären Fließgleichgewicht zum Thema, während die Synergetik nach dem Organisationsursprung jenseits eines kritischen Nichtgleichgewichts fragt. Es ist hier also zu differenzieren zwischen der Selbstproduktion bereits existenter homöostatischer Systeme und dem Ursprung derselben. Die operational geschlossene, zyklische Dynamik der Autopoiesis hat die Selbsterhaltung zum Ziel. Sie ist daher als ein konservativ-systemerhaltender und systemimmanenter Prozess zu charakterisieren, während die Selbstorganisation jenseits eines kritischen Nichtgleichgewichts systemkonstituierend und innovativ-emergent ist. Die erste Zusammenschließung eines Rückkopplungsmechanismus ist ein anderer Prozesstypus als der Rückkopplungsmechanismus selbst. Die konzeptionellen Unterschiede von Autopoiesis und Synergetik haben, wie bereits angedeutet, weitreichende naturphilosophische und auch gesellschaftstheoretische Konsequenzen.

Aus Maturanas Definition von „Autopoiesis“ ergibt sich, dass er die für Maschinen entwickelte Kybernetik auf Organismen anwendet: „Eine autopoetische Maschine ist daher ein homöostatisches (oder besser relationsstatisches) System, das seine eigene Organisation (d.h. das sie definierende relationale Netzwerk) als die grundlegende Variable konstant erhält.“1) Der Begriff „Homöostase“ lässt sich gut an einem Temperaturregler demonstrieren, der dafür sorgt, dass die Raumtemperatur gleich bleibt. Fällt die Raumtemperatur ab, erhöht der Regler die Temperatur, um sie auf gleicher Höhe zu halten. Erhöht sich dagegen die Raumtemperatur über den gesetzten Normwert, sorgt der Regler für eine Absenkung der Raumtemperatur. So bleibt die statische Temperaturhöhe durch einen permanenten Angleichungsprozess erhalten. Der Systemzustand wird nicht grundlegend geändert, sondern nur permanent reproduziert. Man spricht in diesem Fall von „Homöostase“. Die zyklische Dynamik ist Folge der Rückkopplungen. Der Temperaturregler wirkt auf die Raumtemperatur ein und das Resultat dieser Einwirkung wirkt wieder zurück auf den Temperaturregler, der daraufhin wieder reagiert und so fort. Die kybernetische Rückkopplungsdynamik, die operational geschlossen ist, lässt sich mit mathematischen Modellen deterministisch berechnen. Es geschieht hier nichts Unvorhergesehenes und nichts Neues. Es verwundert daher wenig, dass Maturana diesen Determinismus in seiner Übertragung des kybernetischen Modells auf Organismen beibehält: „Lebende Systeme sind deterministische Systeme. Sie sind strukturspezifizierte Einheiten.“2) Und an anderer Stelle: „Wir sind determinierte Systeme. Also sind Kreativität und Neuheit keine Merkmale unserer Operationen als autopoetische Systeme; wir stellen sie als Beobachter fest.“3) Die systemimmanente Dynamik sowohl eines Organismus als auch der Kognition ist ihm zufolge vollkommen durch interne Regler bestimmt. Nur für einen außenstehenden Beobachter kann es so aussehen, als gäbe es hier so etwas wie Neuheit oder Kreativität. Unmissverständlich wird hier also von Maturana ausgesprochen, dass Autopoiesis nichts mit Emergenz (der Entstehung von neuen natürlichen Organisationsformen) oder Kreativität (der Entwicklung neuartiger Ideen und künstlicher Organisationen) zu tun hat. Hier wird der Unterschied zur Synergetik, der es gerade umgekehrt um Emergenz und Kreativität zu tun ist, besonders markant. Als strukturdeterminierte Systeme sind biologische Systeme einschließlich des Gehirns gemäß der Autopoiesistheorie in ihrer zyklisch-kybernetischen, operationalen Geschlossenheit befangen. Sie sind, metaphorisch gesprochen, unfähig, über sich selbst hinaus zu wachsen. De facto ist für sie zudem jede freie Wahl ausgeschlossen. Nur für einen Beobachter, der nicht die ganze Vernetztheit der konsensuellen Interaktionsbereiche überblickt, erscheint es so, als ob etwas unvorhersehbar Indeterminiertes entstünde, da er aufgrund seiner Unkenntnis nur vage Voraussagen machen kann. Maturana: „Wenn das beobachtete System und das Medium, in dem das System beobachtet wird, bekannt sind, dann scheint das System in seinen Interaktionen auf keine Alternativen zu treffen, da das System und sein Medium für den Beobachter ein einziges vorhersagbares System bilden; sind System und Medium unbekannt, dann scheint das System in seinen Interaktionen auf Alternativen zu treffen, da System und Medium operational voneinander unabhängige Systeme für den Beobachter bilden, der ihren weiteren Verlauf nicht vorhersagen kann. […] Ist dies einmal verstanden, dann wird deutlich, daß etwas Neues stets ein Ereignis darstellt, das in einem Bezugssystem gesehen wird, von dem aus es von einem Beobachter nicht hätte vorhergesagt werden können.“4) Generalisierend formuliert Maturana: „Darum ist jede ontologische Behauptung eines objektiven Indeterminismus, die auf wissenschaftlicher Analyse basiert, falsch.“5) Ein größerer Gegensatz zu denen aus der Physik kommenden Selbstorganisationstheorien, d.h. der Synergetik Hermann Hakens und der Nichtgleichgewichtsthermodynamik von Ilya Prigogine, lässt sich kaum denken. Im Bifurkationspunkt nichtlinearer physikalischer Prozesse findet immer eine unaufhebbare, objektive Indeterministik statt, die auch durch beste Kenntnis aller Relationen und Randbedingungen nicht beseitigt werden könnte. In diesem Organisationsentstehungspunkt wird in unvorhergesehener Weise ein Entwicklungszweig gewählt und andere nicht. Topologisch entspricht dies einer Kugel, die genau auf der Spitze eines Berges steht und zufällig in die eine oder andere Richtung fällt.

Die Autopoiesistheorie wird dann zum Problem, wenn ihr Prozesstypus als universelle und fundamentale Dynamik der Natur ausgegeben wird, die sich aus sich selbst begründet und keiner weiteren genetischen Ableitung mehr bedarf. Und genau dies tun die Autopoiesis- Theoretiker, nicht nur Maturana, sondern auch beispielsweise sein Partner Francesco Varela, der verlauten lässt: „Um es gerade herauszusagen - es ist eher so, dass die Biologie die Grundlage der Physik ist, als umgekehrt.“6) Dies könnte sie sein, wenn sie nicht immer schon Organismen voraussetzen würde, sondern die ursprünglich erste Entstehung des Lebens thematisieren würde. Dies ist jedoch für Maturana und Co. keine interessante Fragestellung. Das Resultat dieser Auffassung ist eine organismische Naturauffassung, bzw. eine konservative Biosophie, die ihren eigenen Entstehungsgrund, die ursprünglich erste Entstehung der Biosphäre aus der nichtbelebten, physikalischen Sphäre, nicht reflektieren kann und damit die Erkenntnis verfehlt, dass die Prozessdynamik der Autopoiesis nicht die Ursprüngliche ist, nicht das ontologisch Primäre, sondern bereits Derivat, etwas ontologisch Sekundäres. Charakterisiert man den Ursprung des Lebens als sich selbst organisierenden Vorgang, dann ist die physikalische Selbstorganisation der genetische Grund der Autopoiesis (der systemimmanenten Selbsterhaltungsdynamik bereits existenter Organismen) und damit fundamentaler. Eine Theorie des ersten Ursprungs des Lebens kann das Organismische nicht als Basisprozess voraussetzen, denn dann würde sie voraussetzen, was sie erst zu erklären vorhatte: eine klassische Petitio principii.

Dies wurde auch von Hermann Haken so gesehen, der deshalb der Autopoiesistheorie (m.E. zu Recht) einen nur begrenzten Erklärungswert beimisst. Die von ihm begründete Synergetik ist eine Theorie der ursprünglichen Ordnungsentstehung. Zuvor ungeordnete, regellose Systeme ordnen sich plötzlich selbst, ohne dass es einen externen Ordner oder eine interne ordnende Kraft geben würde. Im Unterschied zu quasistationären Phasenübergängen wie etwa den Kristallisationen, die jeweils durch Energieentzug, d.h. Entropieexport, stattfinden, ist das Erstaunliche an synergetischen Prozessen, dass sie durch Energiezufuhr entstehen, die normalerweise die Entropie, d.h. Desorganisation des jeweiligen Systems erhöhen würde (dies gilt jedoch nur für geschlossene thermodynamische Systeme). Wenn die Energiezufuhr zu einem kritischen Nichtgleichgewicht und damit zu einer Instabilität des Systems führt, dann können plötzlich aus der Unordnung kooperative Phänomene entstehen, die sich aus dem vorherigen Systemverhalten weder deterministisch noch statistisch ableiten lassen und daher nicht voraussagbar sind.

Ausgehend von seinen Spezialgebieten, der Quantenoptik und Lasertheorie, brachte Haken 1969/1970 wesentliche theoretische Neuerungen für die Selbstorganisation ein, die mit den Begriffen Moden, Ordnungsparameter und Versklavungsprinzip zu tun hat/verbunden ist. Mit einem Verfahren, das als sogenannte adiabatische Elimination bereits vorher in der Physik bekannt war, trennt er schnell relaxierende Mikrobewegungen und großräumige Makrobewegungen mit dem Ziel, Gesetzmäßigkeiten der Selbstorganisation zu finden, die unabhängig vom Material, d.h. den Teilen, Elementen oder Untersystemen allgemein gelten. Dies ist ein Ansatz, der sich auf die qualitativen Änderungen der Gesamtordnung, d. h. auf die Konfiguration konzentriert. Die Begriffe „Konfiguration“, „Gestalt“, „Struktur“ zeigen einen kinetisch gemeinten, holistisch geometrischen Zugang, wobei das Ganze mehr ist als die Summe der Teile. Dieser Ansatz geht auf die Theorie der Phasenübergänge (Magnetisierung, Kristallisierung) des sowjetischen Physikers Lev Landau (1908-1968) zurück, der auch den Begriff „Ordnungsparameter“ prägte.

Ordnungsparameter beziehen sich auf die möglichen, reinen Bewegungsformen einer makroskopischen Einheit, die von Haken „Moden“ genannt werden. In der Lasertheorie sind die möglichen makroskopischen Bewegungsformen durch den feldtheoretischen Teil der Quantenoptik gegeben. Dies ist aufschlussreich, denn seit ihrer Begründung war das „Feld“ gedacht als eine nichtgegenständliche Entität, die wie der Raum eine ganzheitliche, die Gesamtheit ihrer Momente bestimmende Qualität hat, die schließlich mit topologischen Begrifflichkeiten der Mathematik in Verbindung gebracht wurde. Gleiches gilt für Flüssigkeiten. Der makroskopische Zugang erfolgt hier nicht statistisch wie in der Thermodynamik, wo die Größen Temperatur, Dichte oder Druck statistisch definiert werden, sondern die Ordnungsparameter beziehen sich auf makroskopische Bewegungsformen, also auf die Geometrie und Topologie des Feldes. Hakens Synergetik hat es demnach mit makroskopischen Bewegungsformen zu tun, die als Formen selbst nichts Materielles sind. Dies liefert die Möglichkeit, die Synergetik als universelle Theorie, unabhängig von den materiellen Bausteinen von Systemen anzuwenden.

Wie sich beim Laser das gesamte elektrische Feld für den Fall einer beliebigen Feldverteilung als Superposition (Überlagerung) aller möglichen reinen Schwingungen des Resonators darstellen lässt, lässt sich beispielsweise auch jede Bewegungsform einer Flüssigkeit durch eine Superposition der reinen Strömungsformen angeben. Diese Strömungsformen können analog zu den Bewegungsformen des quantenoptischen Feldes im Laser mittels Amplituden, d.h. den maximalen Auslenkungen von ihrer Ruhelage bestimmt werden. Im Idealfall können alle möglichen stehenden Wellen mit beliebiger Wellenlänge auftreten. Dies sind die Freiheitsgrade des Systems. Im kritischen Punkt des Nichtgleichgewichts werden einige Freiheitsgrade instabil, die dann die Rolle der Ordnungsparameter übernehmen. Die überwiegende Mehrheit an Freiheitsgraden bleibt im kritischen Punkt stabil und verhält sich so, wie dies von den instabilen Freiheitsgraden vorgegeben wird, die damit zu den bestimmenden Ordnungsparametern werden und die anderen „versklaven“.7) Hakens universeller Ansatz der Synergetik sucht nach allgemeinen Prinzipien der Selbstorganisation, die sich mathematisch fassen lassen und auf alle möglichen Selbstorganisationsvorgänge beziehen lassen. Sie stellt also nicht konkrete Regeln auf oder sequentiell gefasste Ursache- Wirkungsketten.

Sowohl Maturana als auch Haken erheben universelle Geltungsansprüche für ihre Theorien, die sie jedoch beide naturgemäß nicht einlösen können. Auch Hakens Theorie lässt sich, wie diejenige Maturanas, nur mit Schwierigkeiten auf menschliche Vorgänge übertragen, ohne in die Fänge des naturalistischen Fehlschlusses zu geraten.

1)
Humberto Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Wiesbaden/ Braunschweig 1982, S. 185.
2)
Humberto Maturana, Kognition, in: S. J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a. M. 1987, S. 89-119, hier S. 115.
3)
Ebenda, S. 116.
4)
Humberto Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, a.a.O., S. 270.
5)
Humberto Maturana, Kognition, in: S. J. Schmidt (Hg.), a.a.O., S. 115.
6)
F. J. Varela in: R. Kakuska (Hg.), Andere Wirklichkeiten, München 1984, S. 103.
7)
Hermann Haken, Arne Wunderlin, Die Selbststrukturierung der Materie, 1991, S. 233.



Zitierung:
Marie-Luise Heuser: Autopoiesis und Synergetik - zwei unterschiedliche Konzepte der Selbstorganisation, in: Tatjana Petzer (Hg.): SynergieWissen. Interdisziplinäres Forum & Open Access Lexikon, 21.08.2012, http://www.synergiewissen.de